Anders als gedacht: Liebe macht Jolanthe sehend
Zwei Seiten einer Medaille zeigt die Volksoper, indem zwei im selben Jahr entstandene Werke Peter I. Tschaikowskys ineinander verwoben werden. Die Oper „Jolanthe“ und das Ballett „Der Nussknacker“, auch am selben Abend, dem 18. Dezember 1892, allerdings hintereinander, im Mariinski-Theater in St. Petersburg uraufgeführt. Volksopernintendantin Lotte de Beer inszeniert gemeinsam mit dem Choreografen Andrey Kaydanovskiy, Omer Meir Wellber dirigiert, das Publikum applaudiert begeistert.
Tschaikowsky hat die Geschichte des blinden Mädchens, das durch die Liebe ins Licht findet, in im Abdruck des Dramas, „König Renés Tochter“ des dänischen Autors Henrik Hertz in einer Zeitschrift entdeckt. Das Schicksal der Hauptperson, der blinden Jolanthe, bewegte ihn. Die Situation war ihm als Homosexuellem vertraut. Jolanthe ist anders, eine Außenseiterin, auch er fühlte sich als Außenseiter.
Für Jolanthe sind die Träume bunt und süß, doch leider nur die. Ihre Welt ist in Wahrheit farblos und leer, sie ist blind, dass sie eine Außenseiterin ist, weiß sie nicht. Der Vater will seine Tochter nicht verlieren, verbirgt ihr die Wahrheit. Falsch verstandene, besitzergreifende Fürsorge. Die reale Welt kann sie nicht sehen, so flüchtet sie in eine Scheinwelt, träumt sich ins Reich der Süßigkeiten in der Konfitürenburg. Eigentlich ist Jolanthe, die, wie der Art Ibn Hakia sagt, erst sehen kann, wenn sie selbst es will, wie Lisa (oder Klara) im Nussknacker ein Dornröschen. Ob Märchen, Ballett oder Oper, die von den Vaterfiguren in einer Art Geiselhaft gehaltenen jungen Mädchen sollen nicht erwachsen werden. Die Mütter habe da nicht mitzureden und kommen auch in den Bühnenwerken kaum vor. Im Märchen von Dornröschen ist die Entwicklung vom Kind zur Frau eindeutig: Sie blutet und braucht dann Zeit, den Sprung aus dem Nest zu wagen. Die 100 Jahre sind nur eine Metapher. Jolanthe und Lisa (Klara) schlafen, wie lange, ist nicht definiert. Männer haben die Geschichten aufgeschrieben (das Libretto von „Jolanthe“ stammt von Peter Iljitschs jüngerem Bruder Modest), deshalb sind es wieder Männer, die die Schlafenden wachküssen. Jolanthe wartet zwar auch auf den Prinzen (den burgundischen Ritte Vaudemont), doch sie entscheidet, dass sie sich von der Geborgenheit und den bunten Träumen verabschieden will, um „das Licht“, also die Realität, zu sehen.Die zeitliche Koinzidenz der beiden Werke Tschaikowskys und die Gleichheit der beiden weiblichen Hauptfiguren lassen das Gemenge aus Oper und Ballett logisch erscheinen. Katrin Lea Tag lässt die Bühne für die Gesangsszenen, bis auf ein paar Stühle, die meistens leer am Rand stehn, und ein paar Polster für die schlafende Jolanthe, farblos und leer. Auch die Kostüme sind farblos. Umso knalliger geht es in den Ballettteilen zu. Kostümbildnerin Jorine van Beek kann sich austoben, grau sind lediglich zwei Mäuse (Olivia Poropat / Keisuke Nejime), die einen großartigen Pas de deux tanzen, alle anderen Figuren, Blumen, Süßkram, Kasperln und Puppen sind in knallige Zuckerlfarben gehüllt. Ein weißes Kaninchen öffnet den Vorhang und hoppelt auch später immer wieder durch die Szene, eine Leihgabe aus Lewis Carrolls Roman „Alice im Wunderland“. Sarah Branch (seit der Saison 2020/21 Mitglied im Wiener Staatsballett) versetzt nicht nur Kinder in gute Laune. Ist doch die Handlung der Oper eher triste. Jolanthe kann nicht sehen, der Vater bewahrt sie vor der Realität; der versprochene Bräutigam, Robert, Herzog von Burgund, liebt eine andere und seinem Begleiter, Graf Vaudemont, droht der Tod, weil er Jolanthe über ihr Anderssein aufgeklärt hat. Das aber hat der König, ihr Vater, per Gesetz verboten.
Am Ende dürfen aber alle zufrieden sein, der König versteht endlich, dass er sein Kind nicht halten darf, er lässt sie los, Vaudemont bleibt am Leben und heiratet Jolanthe, und Robert ist von seinem Versprechen entbunden. Jolanthe sieht, und jetzt passt der frömmelnde Text von Modest Tschaikowsky nicht mehr zur Inszenierung de Beers. Jolanthe singt einen Gott an, vergleicht ihn mit dem Licht und dankt dem Himmel, dass sie sehen kann. Doch die Bühne bleibt farblos wie zuvor, die bunten Träume komme nicht wieder, Jolanthe muss mit der Realität leben. Aber was hat Gott damit zu tun und auch der strahlende Gesang? Tschaikowsky war am Ende seines Lebens religiös, heute passt diese Hymne nicht mehr, zumal die Inszenierung des Schlussbildes keineswegs von einer „zauberhaften Welt“ erzählt.
In den kurzweiligen Tanzeinlagen verzichtet Andrey Kaydanovskiy auf eine Geschichte, bewegt schwungvoll das gesamte Volksopernensemble des Wiener Staatsballetts im Walzertakt und lässt statt Schneeflocken großartig kräftige Schwäne beiderlei Geschlechts die Fflügel sträuben. Die beiden Kompositionen können unterschiedlicher nicht sein, volles Orchester für die bekannten Ohrwürmer von Blumenwalzer bis zur Schlussapotheose, leise Töne, zu Beginn nur Bläserklang, erst gegen Ende wird Tschaikowsky so schwelgerisch, wie man es gewohnt ist. Fraglich ist auch, ob dieser Abend wirklich für die ganze Familie geeignet ist. Das Thema der Oper ist für Kindern noch recht fern; für Jugendliche ist vielleicht das bunte Ballett nicht das favorisierte Medium und als erste Bekanntschaft mit dem Genre Oper ist „Jolanthe“ auch nicht wirklich geeignet. Für wen auch immer gedacht, der Abend ist überaus gelungen, die Choreografie geht nahtlos in die Gesangsteile über und das Volksopernorchester zeigt wieder einmal, dass es eine Klasse für sich ist. Musikdirektor Omer Meir Wellber steht am Dirigentenpult, dass er eine Errungenschaft ist, weiß man, seit ihn Stéphane Lissner bei den Wiener Festwochen (2011 / 12 / 13) mit der Leitung dreier Verdi-Opern betraut hat. Auch wenn die Balletteinlagen mit der Oper nahtlos verschmelzen, so stehen sie doch für sich. Kein Gehampel der Tänzer hinter den Sänger:innen, kein Gesang in Konkurrenz mit den bewegten Körpern. Lediglich die Figur der Jolanthe ist gedoppelt: Olesya Golovneva singt, Mila Schmidt tanzt und begegnet kurz ihrem singendem Double. Felipe Vieira ist der lebendige Prinz Nussknacker, solange er ein Puppe ist, steckt Christopher Krasnansky, Studierender an der Ballettakademie, unter der übergroßen Kopfmaske.
Tschaikowskys letzte Ballettmusik feiert bis heute Triumphe, vor allem in der Weihnachtszeit, die einaktige Oper allerdings, für den Komponisten ein Herzensprojekt, fand beim Publikum wenig Anklang und ist bis heute kaum bekannt gewesen, erlebt aber gerade jetzt eine Wiederbelebung. Nicht nur in Wien sind die beiden Werke, verschränkt oder getrennt an einem Abend zu sehen, auch in Paris garniert man die einaktige Oper mit dem Ballett; am Salzburger Landestheater probiert man es im kommenden Frühjahr mit einer Zusammenführung der beiden Werke Tschaikowskys; Kirill Petrenko hat die Oper heuer im Frühjahr in Baden-Baden dirigiert und Theodor Currentzis ergänzte bereits 2012 für eine Aufführung im Teatro Real von Madrid Tschaikowskys letzte Oper mit Igor Strawinskys Melodram „Persephone“.Eine letzte Frage, die ich nicht beantworten kann. Warum liegt keine Lupe bei, damit das schmale Programmheft und der Besetzungszettel lesbar sind? Es erscheint mir zu billig, die Papierpreise für die winzige Schrift verantwortlich zu machen. Die möglicherweise enthaltenen Informationen bleiben mir verborgen. Fröhliches Gekritzel und rosa und blau bepinselte Textseiten dienen dem Amüsement, zum Lesen verlocken sie nicht. Doch die Handlung erklärt sich durch den Text, der, deutsch gesungen, in Übertiteln synchron mitgeschrieben wird, und der Tanz? Der erklärt sich von selbst, durch die Bewegung zur Musik. Kleingedrucktes muss sein, wird aber gemeinhin nicht gelesen.
„Jolanthe und der Nussknacker“, Musiktheater für die ganze Familie von Lotte de Beer, Andrey Kaydanovskiy und Omer Meir Wellber nach Peter I. Tschaikowskys Werken:
„Jolanthe“, Lyrische Oper, Libretto von Modest Tschaikowsky nach Henrik Hertzs Schauspiel „König Renés Tochter“. Deutsche Umdichtung nach Hans Schmidt.
„Der Nussknacker“, Märchen-Ballett nach „Histoire d’un Casse-Noisette“ von Alexandre Dumas (Vater) und „Nussknacker und Mäusekönig“ von E. T. A. Hoffmann. Premiere: 9. Oktober 2022, Volksoper.
Gesehen am 11. Oktober.
Sängerinnen und Sänger, Wiener Staatsballett in der Volksoper, Ballettakademie der Wiener Staatsoper. Orchester und Komparserie der Volksoper.
Eine Produktion der Volksoper Wien und des Wiener Staatsballetts in Koproduktion mit der Tokyo Nikikai Opera Foundation.
Nächste Vorstellungen: 17., 22., 27. Oktober 2022.
Fotos: © Ashley Taylor / Wiener Staatsballett