Ioanna Avraam debütiert als Tatjana in „Onegin“
Zu Recht ist die Solotänzerin Ioanna Avraam nach ihrem Debüt als Tatjana in John Crankos so fein ziseliertem Ballett „Onegin“ nach dem Versroman „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin zur ersten Solotänzerin ernannt worden. Technisch auf höchstem Niveau kann sie auch in der Rolleninterpretation überzeugen. Eno Peçi , individuell als Onegin, Davide Dato, unnachahmlich als Lenski und Sonia Dvořak als Olga gehören ebenso zu diesem befriedigenden Abend wie das Corps de Ballet. Schade nur, dass sich der Publikumszustrom in Grenzen gehalten hat.
Zart und schüchtern präsentiert sich Avraam im ersten Akt als versponnene Leseratte. Als sie im Spiegel den fremden Besucher aus der Großstadt sieht, ist es um sie geschehen. Schließlich zeigt dieses Spiel, das die Mädchen im Garten spielen, den Mann im Spiegel, der ihr Schicksal sein soll. Tatjana sieht den eleganten Fremden und weiß, dass er vom Schicksal gesandt ist, um mit ihr durchs Leben zu gehen. Fast meint man den Stich ins Herz, den sie beim Auftauchen Onegins spürt, selbst zu empfinden. Avraam hat feine Mittel zur Verfügung, um eine ganze Palette von Gefühlen auszudrücken. Mit dem Körper und einem differenzierten Mienenspiel ist sie völlig in die von Cranko erdachte Rolle eingetaucht. In der Titelrolle gibt Eno Peçi dem von Moskau aufs Land zu Besuch kommenden Onegin seine persönliche Note. Weniger borniert und hochnäsig, als sich der kaum überbrückbaren Distanz zwischen ihm und der verträumten Tatjana bewusst, tanzt er einen Charmeur, dem die Avancen des jungen Mädchens ziemlich peinlich sind. Bei Puschkin ist er nicht gar so widerlich, wie er von manchen Interpreten der Choreografie dargestellt wird, Peçis Onegin ist eher überfordert und auch gelangweilt von der schwärmerischen Liebeserklärung Tatjanas. Im Spiegel-Pas de deux, wenn Tatjana sich den Geliebten erträumt, ist Avraam ganz Hingabe, lässt gemeinsam mit Eno Peçi die kräfteraubenden Schwierigkeiten der von Cranko verlangten Hebungen nicht spüren. Und danach, wenn Jahre vergangen sind und Tatjana mit dem Fürsten Gremin (Andrey Teterin), einem General, verheiratet ist, wird Avraam nicht zum matronenhaften Hausmütterchen, sondern behält auch als angesehene Gemahlin in St. Petersburg ihre jugendliche Leichtigkeit und die Teenager-Träume im Körper. Wie schwer ihr die Zurückweisung Onegins fällt, der nach einem Leben als Dandy seinerseits die Liebe entdeckt und einsieht, welche Fehler begangen hat, lässt Avraam auch das Publikum spüren. Dezent und zurückhaltend, wie es auch die Art der privaten Tanzpersönlichkeit, der Exaltiertheit und Hysterie fremd sind, ist, lässt Avraam spüren, dass Tatjana den Schmerz von damals noch einmal durchlebt. Einen Moment lang scheint es, als würde sie dem Flehen Onegins erliegen, doch Vernunft siegt über Gefühl. Beschämt und enttäuscht wankt Onegin von dannen.
Dem Hauptpaar Tatjana / Onegin, hat Cranko, richtg; Pusschkin, ein zweites Paar, den jungen Dichter und Freund Onegins Lenski und seine Verlobte Olga, die Schwester Tatjanas, hinzugesellt. Davide Dato und Sonia Dvořak tanzen dieses Paar nicht zum ersten Mal gemeinsam und sind daher gut aufeinander eingespielt. Doch trotz all der wunderbaren Pas de deux, mit welchen Cranko die Tänzer:innen herausfordert und die er zugleich dem Publikum schenkt, ist meine Lieblingsszene das Ende des 2. Akts, wenn sich Davide Dato als Lenski, von Todesahnungen aufgewühlt, auf das Duell mit Onegin vorbereitet. Er selbst hat den Freund herausgefordert, die Eifersucht hat ihn dazu getrieben, weil Onegin schamlos mit Olga, der Braut, geflirtet und Olga mutwillig mitgespielt hat. Jetzt wartet er im Mondenschein voll Angst und Bangen auf den Tod, kniet zum Gebet nieder und bäumt sich noch ein letztes Mal gegen das selbst gewählte Schicksal auf. Kniend beugt sich der Tänzer weit nach hinten, bis der Kopf den Boden berührt und fällt dann in sich zusammen.
Wie Davide Dato diese ungewöhnliche Bewegung ausführt, macht ihm keiner nach, und auch nicht, wie er in diesen einsamen Minuten im Wald die Todesangst spüren lässt – für mich höchstes Glücksgefühl. Ein Tänzer, 32 Jahre jung, der ohne Worte nur mit seinem ausdrucksvollen Körper zeigt, wie nahe jeder Mensch dem Tod ist, kann nicht genug bewundert werden.
Ende der Hommagen, fast. Wenn Dirigent Robert Reimer nach dem ersten Auftritt des Damencorps sich mit den Tänzerinnen über das Tempo geeinigt hat, darf man sich über das gesamte Corps freuen. Wunderbar werden die Unterschiede der gemeinsamen Tänze an den drei Schauplätzen gezeigt, harmonisch und leichtfüßig wirken die Damen, präzise und energiegeladen die Herren. Die Adjektive sind austauschbar.
Der Schlussapplaus fällt, trotz der vielen leeren Sitzplätze, kräftig aus und steigert sich zum Jubel, als Direktor Martin Schläpfer Ioanna Avraams Avancement bekannt gibt. In diesem Jahr wird diese großartige Besetzung am 3. Oktober noch einmal in dem unübertroffenen Meisterwerk John Crankos tanzen. Ende Jänner 2023 kommen Tatjana, Onegin, Lenski und Olga samt Landvolk und St. Petersburger Gesellschaft noch dreimal auf die Bühne. Die Besetzung steht noch nicht fest.
„Onegin“ Ballett in drei Akten & sechs Szenen von John Cranko nach dem Roman in Versen „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin.
Musik: Peter I. Tschaikowski, eingerichtet und instrumentiert von Kurt-Heinz Stolze. Choreografie & Inszenierung: John Cranko. Musikalische Leitung: Robert Reimer. Bühne & Kostüme: Elisabeth Dalton; Licht: Steen Bjarke. Einstudierung Reid Andersson, Lukas Gaudernak, Jean Christophe Lesage.
Getanzt haben Eno Peçi, Davide Dato, Ioanna Avraam, Sonia Dvořak, Andrey Teterin und viele andere. Wiener Staatsballett in der Staatsoper, 26.9. 2022
Letzte Vorstellung 2022 am 3. Oktober.
Fotos: © Ashley Taylor