Mathilde Monnier: „Records“, ImPulsTanz Festival
Wolken segeln auf der Videowand über einen grauen Himmel, die Geräusche einer Sturmflut drohen Unheil an. Im Dämmerlicht erscheinen nach und nach sechs Tänzerinnen in dunkelblauen Hosen und farbigen Sneakers, mit bloßem Oberköper. Im Akademietheater zeigt Mathilde Monnier mit "Records", was Pandemie und Lockdowns in die Körper eingeschrieben haben. Wie genau Monnier auch die Gefühle des Publikums trifft, zeigt die angespannte Stille ebenso wie das aufflammende kurze Gelächter und die Begeisterung die sich abschließend Luft macht.
Anfangs ist wenig los auf der Bühne. Die Tänzerinnen liegen oder sitzen herum, lehnen an der halbhohen weißen Wand, die die weiß ausgelegte Bühne vom Himmel trennt. Manche studieren mit starrer Miene das Publikum, andere schleichen umher und vermessen den Raum. Sie kümmern sich nicht umeinander, sind antriebslos und passiv.
Ein Schrei beendet die Lethargie. Es ist die Stimme der kanadischen Sopranistin Barbara Hannigan, die eine Arie aus György Ligetis Oper „Le Grand Macabre“ intoniert. Der Koloraturgesang dauert acht Minuten, während im begrenzten Bühnenraum des Akademietheaters kaum etwas geschieht. Die Tänzerinnen wechseln träge ihren Platz, suchen eine Neuordnung im Raum, liegend, stehend, langsam umherrutschend oder an der Wand lehnend, ohne den immer düster werdenden Himmel zu sehen. Mathilde Monnier hat die ersten Bewegungen für ihre jüngste Choreografie im Mai 2020, während des ersten Lockdowns in Frankreich aufgezeichnet. Während sie das „kleine achtminütige Stück“ geschrieben hat, hörte sie sich die Stimme der Ligeti-Spezialistin Hannigan an, die die knappe Stunde von „Records“ begleiten wird. Später ist auch der geisterhafte Psychedelic-Rock der Band The Comet is Coming zu hören. 2013 gegründet, war das Trio 2019 in Wien, um das neue Album, „Trust in the Lifeforce of the Deep Mystery“ vorzustellen.
Der Titel „Records“ meint weniger die Schallplatte als die Aufzeichnung, das Protokoll. Das Protokoll der Pandemie. Was haben Experten-Warnungen, Videokonferenzen und die sozialen Netzwerke auf der einen Seite und die Abgeschlossenheit, die Trennung voneinander, von der Realität und die totale Unbeweglichkeit auf der anderen mit uns allen gemacht? Monnier bittet ihre Tänzerinnen, sich an alles zu erinnern, was während der schwierigen Zeit in ihre Körper eingeschrieben worden ist. Die Erfahrungen von Instabilität, von Einsamkeit und Stillstandkönnen nicht vergessen werden, doch der Kontakt zur Welt draußen und zu einander muss neu hergestellt werden. Er wird anders sein als davor. Aud der Suche nach erinnerten Bewegungen, hat Monnier, wie sie berichtet, versucht, „alles was ich als Kommentar, Ornament bezeichne, als das Überflüssige, loszuwerden“. Im leeren Raum gibt es nur diese weiße Wand, Grenze und Brücke zugleich, und die Körper der Tänzerinnen, die alle ihre Gefühle, Gefühle, die sie mit der Welt teilen, noch einmal durchleben.
Dass alles Überflüssige von der Choreografin weggelassen wird, erfordert von den Tänzerinnen ein neues Bewegungsvokabular. Gekrümmte, geknickte Körper, steife, gedehnte Gliedmaßen, hilflose Flugbewegungen, clowneske Sprünge, Kampfposen und eingerollte Körper, der Kopf im Sand oder unter Wasser gesteckt, Pürzel in die Höhe. Aus dem Hämmern der Füße gegen die Wand im Takt der Musik entsteht ein entspannter Dialog. Doch das Zueinanderfinden ist nicht einfach, Aggressionen brechen auf, Ekel vor sich selbst und Wut. Das Schreien, Würgen, Brüllen, Schluchzen, Krächzen, Stöhnen, für sich allein, gegeneinander und miteinander, ist kaum erträglich. Eigene Erinnerungen werden wach, das Bedürfnis, Rabatz zu machen, ist nur zu bekannt.
Nichts wird wieder wie vorher. Im farbigen Licht bricht das Chaos aus, als rasende Megären bewegen sich die sechs Tänzerinnen im Raum, toben, kreischen, rennen, bis sie erschöpft an der stützenden Wand lehnen. Der Videohimmel ist blau, das Licht strahlt und Mathilde Monnier kann mit ihren Tänzerinnen den tosenden Applaus entgegennehmen.
Die Tänzerin und Choreografin Mathilde Monnier, geboren 1959, hat nachdem sie als Tänzerin mit unterschiedlichen Compagnien aufgetreten ist, mit 25 Jahren selbst zu choreografieren begonnen. 1994 wurde sie zur Direktorin des Centre Choréographique National de Montpellier ernannt, wo sie andere Kunstsparten in ihre Arbeit mit einbezogen hat und mit unterschiedlichen Künstler:innen zusammengearbeitet hat. Von 2013 bis 2019 war sie Direktorin des CND (Centre National de la Danse) mit Sitz in Pantin (Île de France) und Lyon. 2020 hat Monnier wieder zu choreografieren begonnen. Und sie beweist, dass sie auch im 21. Jahrhundert einen wichtigen Platz in der internationalen Gemeinschaft des zeitgenössischen Tanzes einnimmt. 1994 war sie mit der Compagnie De Hexe zum ersten Mal im ImPulsTanz Festival zu Gast. Im Volkstheater tanzte und musizierte ein Team aus afrikanischen und westlichen Künstler:innen. Das Publikum war elektrisiert.
Auch fast 30 Jahre später gelingt es ihr, den Funken auf der Bühne und im Zuschauerraum zu entzünden.
Mathilde Monnier: "Records"
Choreografie: Mathilde Monnier.Performerinen: Sophie Demeyer, Lucia Garcia Pulles, Lisanne Goodhue, I-Fang Lin, Carolina Passos Sousa, Ashley Wright.
Lichtdesign Eric Wurtz; Sounddesign: Olivier Renouf; Kostüme: Laurence Alquier. Musik: Luigi Nono und The Comet is Coming.
13., 15. Juli 2022, Akademietheater im Rahmen von ImPulsTanz.
Fotos: © Marc Coudrais