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„Giselle“ mit Maria Yakovleva und Davide Dato

Die Wilis tanzen zum Weinen schön. In der Mitte Eszter Ledán, Sonia Dvořak

Doppelte Freude: Der Zuschauerraum ist rappelvoll und auf der Bühne wird hohe Tanzkunst zelebriert, die von Liebe, Verrat und Rache erzählt. Die aufgefrischte Version der Choreografie von Elena Tschernischova lässt die Solistinnen und Solisten ebenso brillieren wie das Corps de Ballet, das sich in seltener Einigkeit präsentiert und in beiden Akten, da natürlich vor allem die Damen, keine Müdigkeit aufkommen lässen. Der Schlussapplaus war dementsprechend laut und langanhaltend.

Giselle und Herzog Albrecht: ein verliebtes Paar (Maria Yakovleva, Davide Dato).Obwohl Yakovleva reiche Erfahrung in der Gestaltung der Titelrolle im romanischen Ballett zur Musik von Adolphe Adam hat, kann sie doch wieder neue Nuancen hinzufügen, nimmt sich für den Wandel vom verliebten, fröhlich hüpfenden Mädchen zur betrogen Frau, der das Herz gebrochen und der Verstand entflohen ist, die nötige Zeit. Davide Dato ist ein ebenbürtiger Partner, ebenso reich an Erfahrung, ebenso differenziert im Spiel der Miene und des Körpers. Im zweiten Akt, wenn er als Herzog Albrecht das Grab Giselles, die er verführt hat, besucht, strahlt sein gebogener Rücken solchen Schmerz aus, dass man zu glauben geneigt ist, dass Albrecht kein Verführer, sondern ein wahrer Liebender ist.
Beglückend auch das schwierige Solo von Myrtha, der Königin der Wilis. Ketevan Papava ist eine wahre Königin, in tadelloser Haltung lässt sie ahnen, dass sie auch von einem Mann verletzt worden ist, doch bleibt ihr Blick hart, und weder Albrecht noch die für ihn bittende Wilis Giselle können auf Gnade hoffen. Nur die unermüdlichen Sprünge und rasanten Drehungen der zur rächenden Wili bestimmten Verstorbenen und das Ende der Geisterstunde retten Albrecht das Leben. Liebe über den Tod hinaus? Bei Giselle auf jeden Fall, sie verzichtet auf Rache. (Yakovleva, Dato). Würde seine Liebe tatsächlich übers Grab hinausgehen, würde er der Geliebten nicht nur weiße Lilien streuen, sondern ihr auch folgen. Wie es der eifersüchtige Hilarion wohl tut.
Andrey Teterin tappt nicht in die Falle, seine Vorgänger (Kyrill Kourlaev oder Eno Peçi) zu imitieren, sondern tanzt einen nahezu eleganten und anfangs recht sanften Hilarion. Bestens gelingt es ihm zu zeigen, wie aus Liebe zur Winzertochter Giselle Eifersucht und schließlich Hass wird. Aus diesen negativen Gefühlen heraus schleudert er Giselle ins Gesicht, dass Albrecht sie niemals heiraten wird. Das bringt sie um. Andrey Teterin als eifersüchtiger Hilarion. Teterins Hilarion zeigt deutlich seine Reue und seine unverbrüchliche Liebe, er rennt nahezu in die Arme der Wilis (wohl alle „gefallene Mädchen“, wie man von Männern verletzte junge Frauen einst bezeichnet hat) und gibt sich dem Tod, den sie tanzend verlangen, fast freudig hin.
Myrthas beide Begleiterinnen – Halbsolistin Eszter Ledán als lebhafte Zulma, Solotänzerin Sonia Dvořak, als ziemliche blasse, zurückhaltende Moyna – wirken auch als Brücke zum Damenensemble, das sich nicht nur in den weißen Tutus als bestens trainiert erweist. Wäre dieser zweite Akt nicht zum Weinen schön, könnte man die Abwesenheit der feschen Dorfburschen bedauern. Doch sie haben beim Winzerfest und dem Tändeln mit den Mädchen genügend gezeigt, was sie können. Im Pas de deux des Bauernpaares versucht Lourenço Ferreira mit der niemals enttäuschenden Halbsolistin Anita Manolova mitzuhalten, noch gelingt das nicht ganz. Der männliche Part in dieser beliebten Einlage zur Musik von Friedrich Burgmüller, war für Ferreira ein Rollendebüt, da mag die Beinarbeit noch flinker werden und die Geschmeidigkeit der Bewegung sich noch erhöhen.Rache ist so schön wie süß. Davide Dato, Maria Yakovleva, Ketevan Papava in der Mitte des Damenensembles. Überraschend gut kommt Dirigent Jendrik Springer, Assistent des Musik-Direktors der Wiener Staatsoper, Philippe Jordan, mit der schönen Ballettmusik Adolphe Adams zurecht. Genau folgt er dem Tempo der Tänzer:innen, ziseliert fein die pantomimischen Szenen und lässt die Streicher wunderbare Kantilenen bei den Pas de deux spielen. Gute Musik lädt immer auch zum Tanzen ein, ausgenommen die bekannten Solokonzerte, Violine oder Klavier, mit Orchester aus mehreren Jahrhunderten. Bei diesen ist die Konkurrenz zwischen den Solist:innen auf der Bühne und dem Soloinstrument im Orchestergraben zu groß, das Publikum muss eine Entscheidung treffen: Wo liegt der Fokus der Konzentration, Hören oder Sehen? Meist bleibt der Tanz auf der Stecke, denn „die Musik war so schön!“. Sei's drum, dieses Problem hat bei Giselle weder Publikum noch Dirigent und auch die Tänzer:innen müssen nicht um ihr Primat kämpfen. Adam hat echte Ballettmusik komponiert, die unterstützt und anfeuert, sich aber niemals vordrängt.

„Giselle“, fantastisches Ballett in zwei Akten. Musik: Adolphe Adam. Libretto nach Théophile Gautier und Jules-Henri Vernoy de Saint-George & Jean Coralli. Uraufführung 1841, Paris.
Choreografie und Inszenierung Elena Tschernischova. Musikalische Leitung Jendrik Springer. Einstudierung Brigitte Stadler, Lukas Gaudernak, Jean Christophe Lesage, Alice Necsea. 87. Aufführung, 18. Februar 2022. Orchester der Wiener Staatsoper, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Fotos: Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor