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Blaschke / Machacek: „Giotto’s Corridor“, brut

Eva-Maria Schaller vor der scheinbar bröckelnden Wand.

Der Tänzer und Choreograf Georg Blaschke und der Medienkünstler Jan Machacek setzen sich mit der Perspektive in der Malerei auseinander, konkret mit dem Werk des Italieners Giotto di Bondone, und suchen einen Verbindungsgang, einen Korridor, zu Giottos Geometrie. „Giotto*s Corridor“ heißt die Choreografie für zwei Tänzerinnen, einen Tänzer und die Videoarbeiten Machaceks. Vor dicht besetzten Reihen hat die Premiere in der großen Halle des brut nordwest stattgefunden.

Evandro Pedroni mit Eva-Maria Schaller. Im Hintergrund Zeichen an der Wand. Schon öfter hat Georg Blaschke in seinen Choreografien auf die Werke bildender Künstler reagiert. Inspirationsquellen findet er in allen Epochen: Figuren und Gerätschaften im Gemälde „Das Jüngste Gericht“ von Hieronymus Bosch („The Bosch Experience“, 3 Teile, 2014/15), die kleinen Skulpturen des verstorbenen Malers und Bildhauers Antonio Mak („Antonio’s imaginary workshop“, 2017) oder das Menschenbild im Werk von Francis Bacon („Bodies and Accidents“, 2019) werden zu Choreografie, in der auch die Möglichkeiten der digitalen Bilderflut eine wesentliche Rolle spielen.Martina De Dominicis blau verhüllt.Für „Giotto’s Corridor“ dienen die Bilder des italienischen Malers und Architekten Giotto di Bondone als Quelle. Giotto (1276–1337) gilt als „Wegbereiter der Renaissance“, weil er dem zweidimensionalen Tafelbild eine neue Dimension gegeben hat. Giotto hat seinen Figuren Raum, Plastizität und Lebendigkeit verliehen und mit der perspektivischen Verkürzung der Körper und Objekte experimentiert. Blaschke geht es nicht um die Inhalte der Bilder, sondern um die Geometrie im Raum. „Giottos Korridor“ ist für die große Halle in der Nordwestbahnstraße konzipiert, die auch perfekt genützt wird. Der Boden gehört dem tanzenden Trio, die Wände den teils live, teils vorproduzierten Bildern Machaceks.Evandro Pedroni mit dem rätselhaften Turban. © Christine Miess Gleich zu Beginn, während Eva-Maria Schaller mit einem Solo den Abend eröffnet, beginnt es zu krachen und zu poltern, die Wände bekommen Risse, zerbröckeln, Teile der Mauer lösen sich, fliegen durch die Luft. Ein gruseliges Spiel, doch getroffen wird niemand, denn der Einsturz der Wände ist Schein, nur ein bewegtes Bild an der Wand. Später bleiben Martina De Dominicis, Evandro Pedroni und Schaller auf dem Teppich (liegen), tanzen waagrecht, während Machacek die Figuren verdreht, spiegelt und senkrecht vom Himmel stürzen lässt. Das erinnert an barocke Deckenfresken und ist schon sehr weit weg von den frommen Bildern Giottos. Die sind zu spüren, wenn auf der Bühne mit gemessenen Bewegungen, ausgebreiteten Armen und Umarmungen getanzt wird und ein roter Königsmantel, später auch ein marienblaues Tuch, gewickelt und gerollt, gebreitet und geworfen wird. Das Déjà-vu ist unvermeidlich. Die Tanzenden auf der Bühne werden in digitalen Bildern an die Wand geworfen. Im Vordregrund: Eva-Maria Schaller. Auch wenn Blaschke / Machacek keine Erzählung im Sinn haben, steht es jeder / jedem frei, eine zu sehen. Zum Beispiel könnten die wackelnden, einstürzenden Wände, die verzerrten Linien der Zeichnungen an der Wand als Kommentar zur momentanen Situation sehen: Die Perspektive ist verzerrt, die Welt ist aus den Fugen. Als Kommentar zu Giotto und der Kunst der Bildschöpfung ist solche Interpretation allerdings kaum geeignet. Es stellt sich auch nicht dieses erkenntnisreiche Erlebnis ein, das Georg Blaschke mir mit dem Bosch-Experimenten oder der Choreografie zum Werk Antoni Maks beschert hat. Ein Höhepunkt der Zusammenarbeit mit Jan Machacek hat sich mir mit „Bodies and Accidents“ zum Werk Francis Bacons eröffnet, doch diesmal gehe ich leer aus. Martina De Dominicis und Evandro Pedroni erinner nicht nur in dieser Pose an Maria mit ihrem Sohn Jesus, die Maler vergangener Epochen haben die Sehgewohnheiten in Europa bestimmt. Kann sein, dass ich zu weit weg vom Geschehen auf der großen Bühne bin, kann sein, dass die Aufführung in der riesigen Halle in der Nordwestbahnstraße zerflattert, die Tanzenden keinen Kontakt zum Publikum bekommen und die beiden Elemente, Live Tanz auf dem Boden, tanzende Bilder an der Wand, nicht mit einem Blick erfassbar sind, also auch kein Zusammenhang zwischen den Tanzenden und dem digital generierten Geschehen herzustellen ist. Kann aber auch sein, dass genau das die Absicht des Choreografen ist, eine andere Perspektive auf das Bühnengeschehen zu eröffnen. Von der steil ansteigenden Zuschauertribüne gesehen, bewegen sich die Tänzer:innen auf einer anderen Ebene, weit entfernt und kleiner als gewohnt – Vogelperspektive, unerwartet. Bleibt das Erlebnis, den beiden Tänzerinnen und dem Tänzer zuzusehen, konzentriert und geschmeidig zelebrieren sie ihre Bewegungen, breiten die Arm aus, balancieren in Positionen, die nicht möglich scheinen, verteilen sich im Raum oder rücken eng zusammen. Dieser Entwurf wurde wieder verworfen, der Sternenteppich war nicht mit auf der Bühne. © Christine Miess.
Warum sich Pedroni den zusammengewurstelten blauen Umhang als Turban aufsetzen muss, bleibt ein Rätsel. Wärs ein roter Turban, dann wär' das Bild von Jan van Eyck, doch der flämische Maler ist sowohl zeitlich wie auch örtlich ziemlich entfernt von Giotto in Padua.
Noch viel deutlicher als die Beachtung der Perspektive, also das Verhältnis von Körpern und Objekten im Raum in der bildenden Kunst, hat Farbgebung, Körperhaltung und Mimik der dargestelten Figuren aus den christlichen Erzählungen die Sehgewohnheiten in Europa beeinflusst. Künstler nach Giotto entwickelten die Beachtung des Bezugspunktes, den die Betrachter:innen einnehmen, und landeten bei der Zentralperspektive. Diese setzt voraus, dass die Betrachter:innen eines Bildes genau davor stehen. Nicht nur in alten Bildern wird die Zentralperspektive angewendet, auch in Filmen und häufig sogar noch auf der Opern- und Ballettbühne werden die Bilder erzeugt, als säße der Kaiser noch in der Mittelloge. Martina De Dominicis hindert Eva-Maria Schaller in Balance zu bleiben.Schaut etwa eine gemalte Allee an,  dann vernegt sich der Weg nach hinten, der letzte Baum ist ein Zwerg in Relation zum riesigen ersten ganz vorne. Die Linien der real parallel stehenden Baumreihen treffen sich hinter dem Bild in einem Punkt, dem Fluchtunkt. Auf diesen bezieht sich wohl auch Blaschke, der seiner Choreografie den mehr verwirrenden als erklärenden Untertitel  "Tanz in der Flucht" verpasst hat.
Es wird zwar versteckt, verhüllt und wieder aufgedeckt im Spiel mit den Tüchern, in die Flucht geschlagen wird jedoch niemand. Da das Publikum jedoch nicht in der Mittelloge sitzt, sondern breit aufgeteilt ist, haben wir auch unterschiedliche Fluchtpunkte und für die am Rand Sitzenden stimmt die Perspektive nicht mehr, und manchmal, wenn der Zuschauerraum entsprechend breit ist und der Sitzplatz im falschen Winkel, sieht man auch gar nichts auf den Bühnen großer Häuser. Das führt aber jetzt zu weit und weg aus dem Korridor des Signore Giotto. Was nicht im Sinne der Arbeit von Blaschke, Machacek, den Tänzerinnen mit Tänzer und dem gesamten Team ist. 

Georg Blaschke / Jan Machacek / M. A. O. Vienna: “Giotto’s Corrridor”
Künstlerische Leitung und Konzeption: Georg Blaschke; Medienkunst. Jan Machacek. Choreografische Gestaltung und Performance: Martina De Dominici, Eva-Maria Schaller, Evandro Pedroni. Ausstattung: Hanna Hollmann. Lichtgestaltung: Bartek Kubiak. Musikbearbeitung Christian Schröder. Musik von Jim Jarmusch, Christian Schröder, Jozef Van Wissem, John Zorn. Videoprogrammierung: Oliver Stotz. Produktion: M. A. P. Vienna / Raffaela Gras. Premiere: 17.12.2021. Folgevorstellungen: 18., 19., 20.12.2021, brut nordwest.
Fotos: © Laurent Ziegler