Dschungel-Wien: Gelungene Saisoneröffnung
Ein eine junge Frau als Solistin und sechs junge Männer in der Gruppe haben am 24. September die Saison im Dschungel Theaterhaus für Kinder und Heranwachsende eröffnet. Ein fulminanter Eröffnungsabend mit zwei Produktionen, direkt und authentisch. Shahrzad Nazarpour zeigt ihre Performance „Hijab offline“; Corinne Eckenstein hat das Tanzstück „Kalaschnikow – Mon Amour“ mit sechs jungen Flüchtlingen erarbeitet. Beide Vorstellungen werden im Gedächtnis bleiben und werden nicht nach vier Abenden im Archiv versinken. Im März gibt es eine Wiederholung der eindrucksvollen Stücke.
Der Tanz der Männer und die Performance von Shahrzad Nazapour bilden eine Linie. Alle Mitwirkenden sind nach Österreich gekommen, um eine neue Heimat zu finden, haben ihr Geburtsland verlassen, um die Freiheit zu gewinnen, manche auch, um dem Tod zu entfliehen. Auf eindrucksvolle Weise erzählt Nazapour, was sie gefunden hat, als sie den Hijab, das islamische Kopftuch abgelegt hat und die sechs jungen Männer berichten, nahezu ohne Worte, von Todeskommandos und Flucht, von Träumen, die nicht in Erfüllung gehen und Traumata, die nicht zu heilen sind.
Shahrzad Nazarpour kommt aus dem Iran. Sie ist ausgebildete Schauspielerin, was schon in den ersten Minuten ihres Auftritts zu sehen ist, und war zu Hause und auf der Bühne ständig damit beschäftigt den Hijab ordentlich und vorschriftsgemäß zu tragen. Nicht ihre darstellerischen Leistungen, sondern der korrekte Sitz des Hijabs wurden beurteilt. In Österreich kann sie den Hijab ablegen, doch die Maske muss sie anlegen. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Online, wenn sie mit ihren Eltern spricht, verhüllt sie sich lieber, wie es einer Muslima vorgeschrieben ist. Konflikte hat sie als Einwanderin genug.
Nazarpour besticht durch zierliche Bühnenpräsenz, vergisst nicht auf eine erlösende Portion Humor und kuschelt keineswegs mit dem jungen Publikum ab 12. Dass es in jedem Land, auch in Österreich, Regeln und Beschränkungen gibt, darf ruhig ausgesprochen werden. Die Performerin aber glänzt mit echtem Gold, mit Fantasie und Vis comica, fern jeder Übertreibung, kann sie das Publikum gefangen nehmen und zum Nachdenken animieren, ohne es zu manipulieren. Mit Recht hat sie für ihr Konzept von „Hijab online“ den TRY OUT! Nachwuchs-Wettbewerb 2021 mit Bravour gewonnen.
Auf eine gemeinsame (Tanz-)Linie zu bringen, war wohl die schwierigste Arbeit für die Choreografin Corinne Eckenstein, von der auch das Konzept für „Kalaschnikow – Mon Amour“ stammt (so ganz nebenbei: Eckenstein ist auch die künstlerische Leiterin des Dschungel Theaterhauses). Sechs junge Männer, als noch nicht Erwachsene haben sie ihre Heimatländer verlassen, sehr oft um dem Tod zu entgehen. Der Kontakt zu Eltern und Geschwistern ist oft abgerissen, die Familie nicht mehr auffindbar oder tot. Sie haben Heimweh, nach einer Heimat, die nicht mehr existieren, sie mussten erwachsen werden, obwohl so noch in den Kinderschuhen gehen.
In einer rasanten, beängstigend aggressiven Choreografie hat es Corinne Eckenstein möglich gemacht, eine Geschichte, die die Geschichten vieler beinhalten, zu erzählen, die weder Chronologie noch Tatsachen enthält, sondern auf den Gefühlen dieser gestrandeten jungen Männer – „ich bin integriert“, rufen sie immer wieder – basiert. Die Kalaschnikow nimmt Eckenstein als doppeltes Symbol. Das russische Maschinengewehr steht ebenso für die Suche nach Freiheit und Selbstentscheidung und auch für Schutz, Angriff und Männlichkeit. Die zum Mythos erhobene ekelhafte Waffe ist nie zu sehen, aber sie ist in den Köpfen der sechs Tänzer, sie richtet sich unvermittelt gegen das Publikum, ich spüre die Ängste diese Männer, die in Wahrheit noch Buben sind und heimlich im Bett weinen. Ohne viel Worte erzählt diese Stunde mit kräftigem Tanz und einprägsamer, auch arabischer, Musik von Karrar Al Saedi, der auch als Sänger aus dem Dunkel auf der Bühne erscheint, die Innenseite der Fremden, die Eltern, Brüder, Schwestern verlassen haben, um in einer neuen Heimat ihre Jugend leben zu dürfen.
Die Bühne hat Hawy Rahmen überaus aussagekräftig und praktisch gestaltet. Ein mehrteiliger faltbarer Paravent mit opaken Fenstern, die mehr zeigen als sie verbergen, dient als Versteck und Zuflucht, als Realität und Traum, Sehnsuchtsort und Höhle der Enttäuschungen. Eckenstein bietet in ihrer stringenten, von den Tänzern perfekt ausgeführten Choreografie wenig Raum zur Erholung. Nur in kurzen Sequenzen dürfen die Männer wieder wirklich jung sein, blödeln, raufen, spielen und schon schießt wieder die Kalaschnikow in den Kopf und sie landen samt dem Publikum in der Realität. Ein großartiges, aussagekräftiges und beklemmendes Tanzstück.
Übrigens: Für beide Stücke des Eröffnungsabends haben auch hinter der Bühne nicht in Österreich geborenen Künstler:innen gearbeitet. Beide Vorstellungen sind für Schulen geeignet, wobei im Dschungel für die Pädagoginnen hervorragendes Begleitmaterial erstellt worden ist.
Dschungel Wien, Saisoneröffnung:
„Hijab online“. Regie, Performance: Shahrzad Nazapour; Mentoring, Dramaturgie: Myassa Kraitt; Musik: Mahmod Moneka. Uraufführung: 23. September 2021. Folgeaufführungen: 24., 25., 27., 28.9.2021. Eine weitere Serie wird im März 2022 gezeigt.
„Kalaschnikow – Mon Amour“. Konzept, Choreografie: Corinne Eckenstein: Bühne: Hawy Rahman; Kostüme: Kareem Aladhami; Musik: Karrar Al Saedi; Video: Osama Rasheed. Projektleitung Jennifer Vogtmann. Regieassistenz: Sophie Freimüller.
Mit: Ali Reza Askari, Javid Hakim, Ahmad Hazara, Illya Hosseini, Jasir Karimi, Morteza Mohammadi. Uraufführung 23. September 2021. Folgeaufführungen: 24., 25., 27., 28.9.2021. Eine weitere Serie wird im März 2022 gezeigt.
Fotos: © Rainer Berson