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Anne Lise Le Gac & Arthur Chambry: „Ductus Midi“

"Ductus Midi", Anne Lise Le Gac, Arthur Chambry. © Le Gac

Die französische Bühnenkünstlerin Anne Lise Le Gac ist nicht einzuordnen. Was sie dem Publikum vermittelt, ob allein, mit Partnern oder in der Gruppe, ist das Gefühl ungeahnter Freiheit. Gerade noch rechtzeitig vor der Schließung sämtlicher Theaterräume war sie mit dem Musiker Arthur Chambry, der Tänzerin Katerina Andreou und dem Vogelstimmenimitator Christophe Manivet im Tanzquartier zu Gast, um zu reisen, umherzuspazieren, zu wandern und auch zu basteln, zu tanzen und zu singen.

"Ductus Midi" nacheinem Konzept von Anne Lise Le Gac und Arthur Chambry. ©  www.al-lg comEs ist eine Reise ohne Ziel, die Le Gac mit ihren Mitreisenden vollführt, doch es gibt Wege. Die hat sie mit weißer Farbe auf den Bühnenboden gezeichnet, verschlungen, einander kreuzend, im Kreis führend, am Rand sehe ich eine kleine Brücke. Doch Le Gac, in Schuhen auf Stoppeln umherwandernd, kümmert sich wenig um diese von ihre gezeichnete Karte, nicht das Gehen scheint ihr wichtig, schon gar nicht das Erreichen eines vorgegebenen Ziels, sondern zu tun, was ihr gerade einfällt. Chambry und Andreou haben die gleiche Freiheit. Deshalb darf der Musiker seine Instrumente selbst auf der Bühne zusammenbauen, Andreou darf sich dann zu den Schlägen mit hausgemachten Schlägeln bewegen, vielleicht tanzt sie.

Die Schuhe, die Le Gac anfangs trägt, hat sie auch selbst zusammengeschustert, aus einem besonderen Kunststoff, Die Schuhe aus Thermoplastik gehen ihre eigenen Wege. © Margaux Vendassider im heißen Wasser ganz weich wird, später trocknet und härtet, doch, ganz nachhaltig, wieder erweicht werden kann und formbar ist. So wird ein riesiger Gong aus dem Material angeschlagen, ein wie von Kinderhand gebildeter Brunnen ist daraus und auch die neuen Sandalen, die sich Le Gac auf der Bühne macht, sind aus diesem thermoplastischen Kunststoff. Dass Anne Lise Le Gac ursprünglich bildende Künstlerin sein wollte und sich eher durch Zufall für die Bühnenkunst zu interessieren begann, wird durch ihre Liebe zum Basteln und Experimentieren klar.

Zu Chambrys Rhythmusinstrumenten wird nicht nur von Menschen getanzt, auch die Buchstaben tanzen im Takt auf die Leinwand, setzen sich zu Zitaten zusammen und übersetzen später (diesmal ohne Musikunterstützung), was die in Marseille lebende Künstlerin zu erzählen hat. Und plötzlich pfeift mir ein vorlauter Vogel in die Ohren. Noch wird experimentiert: Links leuchtet der Gong, rechts hinten die Küche, in der Mitte hinten agiert Anne Lise Le Gac. ©  Valentine SiboniBald zwitschert und tiriliert, unterhält sich mit den Performer*innen und den Instrumenten als wären es viele Vögel. Weder noch. Es ist der Nachbar von Anne Lise Le Gac, ein Vogelfänger und Vogelfreund, der alle ihre Stimmen kennt und nachahmen kann. Offenbar ist Christophe Manivet gewohnt auf der Bühne zu pfeifen und zu flöten, völlig gelassen bewegt er sich durch den umherliegenden Kram, den Le Gac und Chambry benötigen oder auch nicht. Ein Kunstzwitscherer, der den Musiker arbeitslos macht. Der hat ohnehin Hunger, begibt sich in die Küche, um sich eine Suppe zu kochen. Leider lässt er sie anbrennen, was mit Gestank Erinnerungsfetzen aus der eigenen Küche herbeiweht.
Der Kochtopf ist nicht aus Thermoplastik.

Wie das Reisen des Quartetts, von dem jede und jeder auch seine eigenen Wege gehen darf, kein Ziel hat, so hat das Stück kein Ende. Es könnte auch immer so weiter gehen, so entspannend und zugleich überraschend ist dieser Ductus, der vielleicht zu Mittag ( Französisch Midi) beginnt oder in den Süden (Französisch: Le Midi, Südfrankreich) führt, Katerina Andreou kocht, Anne Lise Le Gac versucht, mit den selbst gemachten Schuhen zu gehen, Arthur Chambry bastelt an seinen Instrumenten. © www.arthurchambry.comdass ich noch lange im Geiste mitgehen könnte, vielleicht dürfte ich dann wenigstens den Gong anschlagen, die Hände im sprudelnden Brunnenwasser nässen und den Zwitscherer fragen, welcher Vogel er denn sein will. Doch Chambry legt die Schlägel weg, Andreou steht aus ihrer bequemen Lage auf, der Vogelstimmenimitator verschwindet – lautlos.
Anne Lise Le Gac singt ein letztes Lied und dreht das Licht ab.

So ganz zufällig kommt das Ende doch nicht. Anne Lise Le Gac ist experimentierfreudig, offen und entspannt und zugleich überaus diszipliniert. Wenn das Licht erlischt, sind genau jene 70 Minuten vergangen, die als Längenangabe auf dem Programmzettel stehen. Dennoch entsteht eine kurze Pause, um der Enttäuschung Herr zu werden, dann brandet der Applaus hoch. Noch ahnen wir nicht, dass vorläufig niemand anderer in Wien diesem Ductus folgen darf – COVID-19 hat‘s verboten. Ein Trost bleibt, Anne Lise Le Gac ist Stammgast im Tanzquartier und kommt sicher wieder, auf neuen endlosen Wegen.

Anne Lise Le Gac, Arthur Chambry: „Ductus Midi“. Konzept: Anne Lise Le Gac, Arthur Chambry; Entwicklung, Performance: Anne Lise Le Gac, Arthur Chambry, Katerina Andreou, Christoph Manivet. Lichtdesign: Nils Doucet. Eine Produktion von OKAY CONFIANCE (Marseille) mit Tanzquartier, Kunstenfestivaldesarts (Brüssel) und vielen anderen Institutionen. Einmalige Aufführung am 11. März 2020, Tanzquartier.
Die zweite geplante Aufführung ist dem Virus zum Opfer gefallen.