BALLETTABEND: „CARMINA BURANA“, VOLKSOPER
Drei Choreografien, drei Komponisten und ein ausgezeichnetes Ensemble prägen den Abend, der in der Volksoper zuvor das Publikum, wie schon 52 Mal zuvor, in Bann zieht. Die Uraufführung der drei Tanzstücke – „Nachmittag eines Fauns“ von Boris Nebyla, „Bolero“ von András Lukács und Carmina Burana“ von Vesna Orlic – ist 2012 bejubelt worden, 2013 hat der Abend als „beste Ballettproduktion“ den Österreichischen Musiktheaterpreis erhalten. Nicht geringen Anteil an diesem permanenten Erfolg haben auch Dirigent Guido Mancusi und das Volksopernorchester mit der Interpretation der Werke von Claude Debussy, Maurice Ravel und Carl Orff.
Es ist schon gewagt, wenn Klassiker des Konzertsaals und der Ballettbühne Choreografen anvertraut wird, die in diesem Metier als „jung“ zu bezeichnen sind. Ballettchef Manuel Legris hat es gewagt und gewonnen. Nicht nur mit Debussy, Ravel und Orff, sondern auch mit Nebyla, Lukács und Orlic. Wie oft Tainá Ferreira Luiz und Felipe Vieira Nebylas „Faun“ (Debussy) schon getanzt haben, kann ich nicht mehr zählen, jedenfalls zeigen sie in ihrem Pas de Deux Selbstsicherheit und Beweglichkeit. Dass mich die Choreografie kalt lässt, liegt nicht an dem athletischen Paar, sondern vor allem an Waclaw Nijinski, der sich den Faun auf den Leib geschrieben hat. Nur wenigen großen Choreograf*innen ist es gelungen, Debussys Musik so einprägsam und hitzig umzusetzen wie der russische Tanzkünstler (mit polnischen Vorfahren). Die kanadische Tänzerin und Choreografin Marie Chouinard hat mit Humor einen richtigen Ausweg gefunden: sie hat den virilen Faun selbst getanzt, eitle Männlichkeit zur Frauensache gemacht.
András Lukács hat es mit Ravels „Bolero“ besser getroffen. Zwar gibt es auch davon unvergessliche Choreografien, Maurice Béjart ist vor allem zu nennen, doch ist Ravels „Bolero“ längst ins kulturelle Gedächtnis der Welt eingegangen und von allen neun Musen gehätschelt und interpretiert worden. Ravel hat den Bolero 1927 als Ballettmusik für die Tänzerin Ida Rubinstein geschrieben, die erste Choreografie hat Bronislawa Nijinska 1928 geschaffen. Ravel selbst betrachtet seinen Bolero, dessen konzertante Uraufführung er 1930 selbst dirigiert hat, mit verhaltener Ironie: „ich habe nur ein Meisterwerk gemacht, das ist der Bolero, leider enthält er keine Musik.“ Dafür enthält Lukács Choreografie reinen Tanz, entkleidet von jeglicher erotischer Konnotation, aber genau dem progressiven Crescendo und den 18 Wiederholungen, betont durch das Ostinato der Trommeln, folgend. In schwingenden dunklen Röcken tanzen zehn Frauen (mit breitem bis aufs Brustbein reichendem schwarz glänzendem Halsschmuck) und zehn Männer in ständiger Wiederholung, doch immer neuer Gruppierung, bis zum abrupten Ende. Ravels Bolero ist ein Krimi, er hält die Zuschauer*innen (Zuhörer*innen) in ständiger Spannung, doch es tauchen immer neue Verdächtige auf. Lösung gibt es keine. Mit einem Schlag ist plötzlich alles aus, und man hätte doch so gerne noch weiter gelesen, gehört, gesehen, der Sog lässt seine Gefangenen nicht so schnell los. Die Pause bringt den nötigen Abstand zum Hauptwerk, Carl Orffs als „szenische Kantate“ komponierte Lieder aus einer im Kloster Benediktbeuern gefundenen Sammlung in verschiedenen mittelalterlichen Sprachen unter dem Titel „Carmina burana“ (Beurer Lieder).
Choreografiert hat das opulente Chorwerk Vesna Orlic, Vertreterin des Ballettdirektors an der Volksoper und ehemalige Tänzerin, in dem es um den Kreislauf des Lebens geht. Das Schicksalsrad wird von der Göttin Fortuna gelenkt: „O Fortuna“, mit dem gewaltigen Chorsatz setzt das Spiel der magisch-mythischen Bilder ein. Und mit einer Überraschung: Der junge Aleksandar Orlic, Absolvent der Ballettakademie und schon als „Spaziergänger im Park“ in John Neumeiers Ballett „Le Pavillon d’Armide“ in der Staatsoper und auch beim Opernball als Akademie-Schüler aufgefallen, debütiert als Schicksalsgöttin Fortuna, die nahezu die gesamte Zeit auf der Bühne agiert. Er zeigt keinerlei Premierennervosität und besticht durch Ausdrucksstärke und Präzision. Dass die jungen Damen im Publikum in begeistertes Kreischen ausbrechen, ist nicht verwunderlich. Aleksandar hat Bühnenpräsenz und macht beste Figur. Das gesamte Volksopernensemble des Wiener Staatsballetts wuselt auf der Bühne, der Platz ist nicht groß, muss doch dahinter Chor samt Zusatzchor Platz finden. Von Holger Kristen einstudiert, schmettern und flüstern die Frauen und Männer, was die Kehle hergibt. Kindlein in engelsgleichem Gewand trippeln ebenfalls auf, Lucio Golino und Brigitte Lehr haben mit dem Kinderchor der Volksoper geübt. Deutlich artikulieren die jungen Sänger*innen den lateinischen Text. Nebel wallt auf, rotes Licht taucht die Bühne in eine kurzweilige Hölle, verkommene Mönche tanzen Cancan, da darf auch gelacht werden.
Orff selbst hat seine Komposition in drei Teile geteilt (Primo vere, Frühlingserwachen und Liebe; in taberna, opulentes Gelage; Cours d’amour, die Liebe siegt), sie dauert mit Gesang (Chor + Sopran, Tenor und Bariton), Tanz und Spiel eine gute Stunde. Die wird recht anstrengend, die beiden kurzen Ballette davor sind bald vergessen. Ihr Verzicht darauf wäre kein Verlust. Mit einer dritten Choreografie an einem eigenen Abend "junger Choreograf*innen", hätten sie mehr Aufmerksamkeit bekommen.
„Carmina Burana | Nachmittag eines Fauns | Bolero“, dreiteiliger Ballettabend mit Choreografien von Vesna Orlic, Boris Nebyla und András Lukács. Musik: Carl Orff, Claude Debussy, Maurice Ravel. Tänzer*innen: Tainá Ferreira Luiz, Felipe Vieira in „Nachmittag eines Fauns“; 20 Ensemblemitglieder in „Bolero“; Rollendebüts: Aleksandar Orlic, Fortuna; Robert Weithas, Junger Mann; Elena Li, Ehefrau; Tessa Magda, Rivalin; Gloria Maass, Alte Frau. Samuel Colombet, Schwarzer Schwan, Suzanne Kertés, Junges Mädchen; Kurt Fuckenrieder, Alter Mann; Ensemble.
Gesang: Lauren Urquhart, Sopran, Rollendebüt; Sebastian Reinthaller, Tenor; Ben Connor, Bariton. Orchester der Volksoper, Chor, Zusatzchor und Kinderchor der Volksoper, Komparserie. Dirigent: Guido Mancusi. 53. Vorstellung, 22. Jänner 2020, Wiener Staatsballett, Volksoper.
Reprisen: 28.1., 1., 8., 14. 20., 23., 27. Februar 2020.
Fotos: Ashley Taylor. © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor