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Mei Hong Lin: „Le Sacre“, Tanzlin.z

Im Sanatorium: Valerio Iurato, Núria Giménez Villarroya

Mei Hong Lin hat für ihre Compagnie Tanzlin.z einen tieftraurigen, niederdrückenden Abend zu Musik von Richard Strauss und Igor Strawinsky choreografiert. „Metamorphosen“ in der chorischen Fassung für 23 Solostreicher von Richard Strauss, uraufgeführt 1946, steht am Anfang des Abends, dessen Premiere am 26. Oktober vom Linzer Publikum lautstark gefeiert worden ist. Im zweiten Teil hat sich die Choreografin und Ballettchefin an Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ gewagt und ezählt, wie in „Metamorphosen“, eine Leidensgeschichte aus den düsteren Zeiten des Krieges.

"Metamorphosen":  Shang Jen Yuan,  Pedro Tayette,  Safira Santana Sacramento. Der Abend, so ambitioniert er ist und so aktuell die Thematik ist – Erinnerungen an die Vernichtungslager des 2. Weltkrieges, an die Zerstörung der Menschen durch Gewalt und Brutalität und die Unmöglichkeit der Liebe in Zeiten des Krieges –, fällt auseinander.
Das beginnt schon mit der Fehlinterpretation des französischen Wortes Sacre (die Weihe). Als Strawinsky die Musik für „Le Sacre du Printemps“ komponierte, dachte er an das alte Russland, an ein heidnisches Ritual, im Laufe dessen ein Mädchen geopfert werden muss, damit das Leben weitergeht.
Im Deutschen ist der Titel statt mit „Frühlingsweihe“ als „Frühlingsopfer“ übersetzt. Also widmet sich Lin der Opferbereitschaft: Im Ballett „Metamorphosen“ opfert ein Paar während der deutschen Besatzungszeit in Frankreich seine Liebe. Zwischen einem Besatzungssoldaten und einer Französin ist sie nicht lebbar. Adam und  die Krankenschwester (Valerio Iurato,  Mireia González Fernández.„Le sacre du Printemps“ hat diesmal leider gar nichts mit einer Frühlingsweihe zu tun, ist auch kein wildes, heidnisches Ritual. Gebrochene, traumatisierte Kriegsopfer geistern in einem Sanatorium umher und warten auf Heilung. Der Protagonist, Adam, hat eine Affäre mit einer Pflegerin und freundet sich mit einem Mädchen an, das ihm wie ein Hündchen folgt, schließlich opfert er sich (wie Jesus?) als Sühne für alle Untaten der Menschheit, oder wird geopfert, denn er wird, während die Sanatoriumsinsass*innen ihren hektischen Tanz aufführen, im Hintergrund regelrecht massakriert.

Lin hat sich weniger an die allzu bekannte Musik Strawinskys gehalten denn an einen Roman des israelischen Autors Yoram Kaniuk (1930–2013. „Adam Hundesohn“ (Hanser, 1989, List 2006, als „Adam Resurrected / Ein Leben für ein Leben“ 2008 verfilmt von Paul Schrader). Der Inhalt des Romans hat aber wenig mit der kräftigen Musik Strawinskys zu tun. Das eindrcksvolle Bühnenbild von Dirk Hofacker für "Le Sacre du Printemps".Die Tänzer*innen der Compagnie sind großartig, ausdrucksstark, akrobatisch und zart schonen sie sich den gesamten Abend nicht.
Doch ich habe zu viele Bilder von großartigen „Sacre“- Interpretationen im Kopf (von Maurice Béjart über John Neumeier und Pina Bausch bis zu Royston Maldoom, der mit Berliner Jugendlichen und den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle „Rythm Is It“ aufgeführt hat), um Mei Hong Lins Choreografie, die für mich mit der Musik wenig zu tun hat, genießen zu können.

„Metamorphosen“ von Richard Strauss ist keine Musik, die sich zum Tanzen eignet: „Eine Suppe, auf der manchmal ein paar Fettaugen schwimmen“, sagt meine Nachbarin. Strauss selbst nannte sein letztes symphonisches Werk „eine Studie“; „eine Handgelenksübung“ hat der 81jährige in einem Brief geschrieben. Später schrieb er „In memoriam“ in die Partitur, an der Stelle, wo er an den Trauermarsch aus Ludwig van Beethovens „Eroica“ erinnert. Adam, Krankenschwester, Kind: Mireia González Fernández, Núria Giménez Villarroya, Valerio Iurato

Dirk Hofacker gelingt es, mit dem Bühnenbild den Zusammenhang zwischen beiden Choreografien zu betonen. Die kahlen Mauern an der Seite bleiben immer stehen, im ersten Stück machen Schneehaufen, auf die Asche regnet, und ein kahler Baum im Hintergrund die Tristesse der Besatzungszeit sichtbar. Im zweiten Teil, wenn Adam sich an seine Qualen im KZ erinnert, teilt Hofacker die Bühne in drei Ebenen, lässt im Vordergrund die Erinnerungen tanzen, darüber ist Adam in Aktion zu sehen, doch dann gibt es noch eine Ebene, auf der die anderen Patient*innen agieren. Eigentlich zu viel, um alles im Blick zu behalten, doch plastisch und auch die Geschichten beider Stücke erhellend.

"Metamorphosen": Die Musik schwurbelt ohne Höhepunkt aus dem Orchestergraben, der Tänzer springt in die Höhe (Die Macht / Regime). In ihren jüngsten Balletten, „Marie Antoinette“, „Romeo und Julia“, hat Lin wunderbar mit zeitgenössischen Komponisten zusammen gearbeitet, jeweils Abende gezeigt, die aus einem Gruß waren und eine eindrucksvolle, aktuelle Geschichte erzählt haben. Die Compagnie ist mit der Tanzsprache Lins bestens vertraut und jede Tänzerin, jeder Tänzer, ob Solist*in oder in der Gruppe, zeigt eine perfekte Körperbeherrschung und Bühnenpräsenz. Doch die gebrochenen, leidgeprüften Figuren kommen gegen Strawinskys verschobene Rhythmen, die Schläge der Pauken und Trommeln, die komponierte Ekstase im Tanz des Opfers nicht an. Auch wenn Dirigent Markus Poschner das Orchester, gedämpft und wenig aufregend spielen lässt.

Das Publikum im ausverkauften Musiktheater von Linz ließ sich auch durch Schmerz und Entsetzen nicht abhalten, die Compagnie und das Team enthusiastisch zu feiern.

Mei Hong Lin: „Le Sacre“ zweiteiliger Tanzabend mit Kompositionen von Richard Strauss und Igor Strawinsky. Choreografie und Inszenierung: Mei Hong Lin, Bühne und Kostüme: Dirk Hofacker, Lichtdesign: Johann Hofbauer, Dramaturgie: Thorsten Teubl.
„Metamorphosen“, Richard Strauss. Mit Lara Bonnell Almonem (Sie), Nimrod Poles (Er), Filip Löbl, Andrea Schuler, Shang-Jen Yuan (Die Macht / Regime), Kayla May Corbin, Valerio Iurato (Solopaar), Ensemble von Tanzlin.z
„Le Sacre du Printemps“, Igor Strawinsky (revidierte Fassung von 1947). Mit Valerio Iurato (Adam), Vincenzo Rosario Minervini (Adam der Erinnerung), Núria Giménez Villarroya (Das Kind), Mireia González Fernández (Krankenschwester) und dem Ensemble von Tanzlin.z
Premiere: 26. Oktober 2019. Nächste Aufführungen: 29. Oktober, 1., 6., 8., 10. November 2019. Landestheater LInz, Musiktheater.
Fotos: Sakher Almonem fotografierte die Probe vom 17. Oktober 2019.