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Niklas Natt och Dag: „1793“, historischer Roman

Der Autor Niklas Natt och Dag. © Gabriel Lilljeval / Piper Verlag

Die Jahreszahl 1793 gibt den Rahmen für eine komplexe, faszinierende Kriminalgeschichte aus Schweden. Mit seinem ersten Roman lässt Autor Natt och Dag die Leserinnen tief ins 18. Jahrhundert eintauchen und erzählt vor genau recherchiertem historischen Hintergrund von düsteren Zeiten, politischen Machtspielen, Hass, Angst und den Leiden der Unterdrückten. Eine entsetzlich zugerichtete Leiche gibt den Anstoß, ein Detektiv und ein ehemaliger Soldat machen sich auf die Suche nach der Identität des Toten und der Ursache für den höchst ungewöhnlichen, überaus grausamen Mord.

Der Bezirk von Stockholm im 18. Jahrhundert, wo der Roman vor allem spielt. © Piper VerlagMickel Cardell ist einer, der schnell zuschlägt, vor allem wenn er betrunken ist, und das ist er täglich. Mit seiner hölzernen Armprothese ist er meist im Vorteil, doch er ist einsam und hasst seinen Dienst als Häscher, bei dem er bezahlt wird, wenn er jene der Polizei zuführt, die Stockholm zu einer Kloake machen, Diebe, Raufbolde, Huren oder solche, die man dafür hält. Als er den Toten ohne Gliedmaßen, mit ausgestochenen Augen aus dem Teich zieht, lässt ihn die Frage nach dem Wer und Warum nicht mehr los. Ein Glück, dass er auf dem Friedhof den Juristen Cecil Winge trifft. Gemeinsam wollen sie „den Tod verstehen und den Mörder finden.“ Die Obrigkeit ist dagegen, will die Untersuchung stoppen, doch Winge schert sich nicht darum. Er hat im Endstadium einer Tuberkulose-Erkrankung den Tod bereits vor Augen, nichts und niemand kann ihm mehr etwas anhaben.

Niklas Natt och Dag, aus altem schwedischen Adelsgeschlecht, kennt sich in der Geschichte Schwedens aus und erzählt mit fundierter Sachkenntnis und solchem Enthusiasmus, dass ich mit ihm durch die dreckigen Gassen stapfe, mich in Kaschemmen und dem Spinnhaus, wo Mädchen und Frauen zur Strafe Frondienste leisten müssen, umtreibe, die Ausschweifungen der Reichen und das Leid der Unterdrückten hautnah erlebe.Heute ist anstelle des Fatburen Teichs, aus dem Cardell den Toten gezogen hat, ein Park. © sv.wikipedia, free license

Wenn die Geschichte beginnt, ist die Ermordung des Königs noch in aller Munde. Gustav III. ist im März 1792 von Jacob Johann Anckarström während eines Maskenballes erschossen worden (genau, der Königsmord ist der Stoff für ein Theaterstück von Eugene Scribe, nach dem Giuseppe Verdi seine Oper „Ein Maskenball“ komponiert hat), am Ende des Romans rollt der Kopf einer Königin (Marie Antoinette stirbt im Oktober 1793 durch die Guillotine) – der neue König fürchtet, dass die Revolution auch sein Land ins Chaos stürzt.

Niklas Natt och Dag erhält den schwedischen Krimipreis für das beste Spannungsdebüt. © sv.wikipedia, free licenseCardell und Winge sind zwei nahezu gegensätzliche Charaktere, finden jedoch durch ihre Moralvorstellungen zusammen. Beide haben Schweres zu ertragen, Cardell die Erinnerungen an den Krieg (Schweden gegen Russland (1788–90), in dem er den Tod seines Freundes nicht verhindern konnte und selbst einen Arm verloren hat, Winge durch seine unheilbare Krankheit. „Der Wolf und der Häscher“ heißt der Buchtitel in der englischen Ausgabe, angelehnt an das lateinische Zitat „Homo homini lupus“, der Mensch ist des Menschen Wolf. Und auch Cardell, der anständige Humanist, muss sich selbst hintergehen, lügen und betrügen, um anderer Menschen willen. Sein Zweck aber heilt tatsächlich die Mittel.

Natt och Dag erzählt die Historie im Jahreskreislauf. Vom beginnenden Frühling über den heißen Sommer bis in den schneereichen Winter werden nicht nur Winge und Cardell vorgestellt, sondern auch der junge Kristofer Blix und das Mädchen Stine, die unschuldig im Spinnhaus arbeitet. Was die beiden mit dem Mord zu tun haben, erschließt sich im letzten Kapitel, Stockholm: Heute liegen die Schauplätze der Handlung im Bezirk Södermalm. ©  sv.wikipedia, free licensewenn Cardell und Winge vom Mörder empfangen werden. Dank Winges Vorsatz, niemanden zu verurteilen, wenn er die Gründe für ein Verbrechen nicht genau kennt, erfahren auch die Leserinnen die tragische Lebensgeschichte des Mörders. Alle Personen dieses lebendig und abwechslungsreich erzählten Romans sind traumatisiert, wie sie damit umgehen, macht den Unterschied zwischen Gut und Böse. Die heimtückische Natur, fälschlich dem Wolf zugeschrieben, lauert in allen Schichten der Gesellschaft, und niemand, so lässt der Autor den sympathischen, todkranken Winge denken, ist ganz schwarz oder ganz weiß.

"1793", Buchcover.© Piper Verlag Die schillernde, verschlungene Geschichte liest sich wie ein Filmerlebnis und erinnert in ihrer Intensität an Umberto Ecos Roman „Im Namen der Rose“. Niklas Natt och Dag, Nachfahre eines schwedischen Rittergeschlechts, startet damit eine Trilogie, mit der er die Jahre der Interimsregierung, als des ermordeten Königs Sohn, Gustav IV. Adolf, mit 14 Jahren noch nicht regierungsfähig war, beschreiben will. 2021 will der heute 40jährige alle drei Bände fertig haben und mit den Gedanken wieder ins 21. Jahrhundert zurückkehren. Im ersten Band finde ich Hinweise, wem es im nächsten an den Kragen gehen wird. Für das großartige Romandebüt ist der Stockholmer Journalist mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem schwedischen Krimipreis.

Niklas Natt och Dag: „1793“, aus dem Schwedischen von Leena Flegler,
Piper 2019. 496 S. € 17,50.