Ballettgeschichte in Bildern – Zeugnis einer Ära
Unerschöpfliche Kreativität gepaart mit einer ebensolchen Energie kennzeichnen den dienstältesten Ballettchef der Welt, John Neumeier. Nun hat er mit dem Hamburg Ballett, seinem Hamburg Ballett, ein Jubiläum feiern dürfen: 50 Jahr John Neumeier in Hamburg – und in der Welt, liest man die Liste der rund um den Erdball getanzten Gastspiele. Damit alle, die das Ballett lieben, an diesem Jubiläum teilnehmen können und womöglich auch in Erinnerungen schwelgen dürfen, hat das Hamburg Ballett mit John Neumeier die Ära Neumeier in einem üppigen Bildband, erschienen im Henschel-Verlag, festgehalten.
Die ephemere Kunst des Tanzes eignet sich nicht für die Konserve. Videos und Filmen fehlt die direkte Begegnung mit den Tänzer:innen, während der Text im Schauspiel auch bei der 25. Vorstellung noch derselbe ist, kann die Bewegung niemals exakt wiederholt werden, Schweiß und Atem reagieren nicht jeden Abend gleich, das Auge kann den Drehungen und Sprüngen kaum folgen, das Gehirn das Gesehene kaum speichern. Der fotografische Apparat kann eine Sekunde festhalten, den Tanzkörper im Sprung einfangen, die flüchtige Umarmung in einem Pas de deux festhalten und Erinnerungen wachrufen und strukturieren. Mehr als 300 Fotos, vor allem von den „Hausfotografen“, Kiran West und Holger Badekow, leisten diesen Dienst. Neumeier wollte die Bilder nicht interpretieren, es werden nur die Fakten benannt: das Werk und die Tänzer:innen. Auf persönliche Texte Neumeiers und Aussagen der Tänzer:innen muss dennoch nicht verzichtet werden Ergänzt wird die Bilderflut von einem reichhaltigen Register: Werke, Tourneen, Ensemblemitglieder, reiche Ernte für die nächste Masterarbeit.
John Neumeier ist 1939 in Milwaukee / Wisconsin geboren und nach seiner Tanzausbildung 1963 von John Cranko nach Stuttgart geholt worden, wo er auch seine ersten Choreografien gezeigt hat. 1969 war er bereits Ballettchef, der jüngste in Deutschland. Bis 1973 leitete er das Ballettensemble in Frankfurt am Main und fiel schon damals durch seine Choreografien auf. 1973 holte ihn August Everding nach Hamburg und Neumeier begann das Hamburg Ballett zu formen, wie es heute weltweit bekannt und einzigartig ist. Den Anstoß, das Ballett als Lebensinhalt zu wählen, gab, der Legende nach, Vaslav Nijinsky, dessen Biografie den junge John gefesselt hatte. Der Erneuerer des klassischen Tanzes ist sein Idol geblieben, drei Ballette hat er ihm gewidmet, als Abschluss der Hamburger Balletttage zu Saisonende gibt es jedes Jahr die Nijinsky-Gala. Wie jede Vorstellung wird auch diese vom angeblich kühlen Hamburger Publikum, das seinen Neumeier verehrt und liebt, mit Enthusiasmus bejubelt.
Sein 50. Jahr in Hamburg wollte er zum Anlass nehmen, das Hamburg Ballett einem neuen Chef zu übergeben. Doch bis der Neue bestimmt war, vergingen Wochen, und Neumeier entschloss sich, ein „Ehrenjahr“, wie es manchen Beamten geschenkt wird, anzuhängen. Ab der Saison 2024/25 wird der Deutsch-Argentinier Demis Volpi, Jahrgang 1985, die Compagnie leiten. Bei der Entscheidung mag wohl mitgespielt haben, dass Volpi, der zurzeit das Ballett am Rhein leitet, von Geschichten und den Erzählmöglichkeiten im Ballett ebenso fasziniert ist wie John Neumeier.
„50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier. Bilder einer Ära“
Herausgegeben von Hamburg Ballett John Neumeier, Deutsch und Englisch, Henschel Verlag 2022. Grafische Gestaltung und Satz: Kiran West; Projekt- und Redaktionsleitung: Jörn Rieckhoff. 256 Seiten, 33 s/w und farbige Abbildungen. € 50,40