Christoph Poschenrieder: „Ein Leben lang“, Roman
Einen Roman im engeren Sinn hat Chritoph Poschenrieder diesmal nicht geschrieben. Doch wie in seinen sechs anderen Romanen sind Fakten die Inspirationsquelle. Der Münchner Parkhausmord 2006 hat das Interesse des Autors geweckt. Mit einer Aneinanderreihung fiktiver Interviews im Freundeskreis des Verurteilten geht er der Frage nach, was Freundschaft bedeutet und was sie aushalten muss.
Was wir vom Münchner Parkhausmord und dem Prozess wissen: Die Ermordete liegt einen Tag lang erschlagen in ihrem Appartement. Sehr schnell wird der Neffe der toten Geschäftsfrau verdächtigt und verhaftet. Obwohl er die Tat leugnet, wird er auf Grund der Indizien wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Besondere an diesem ungewöhnlich langen Prozess – mehr als 15 Monate, 93 Verhandlungstage – ist die Teilnahme der Öffentlichkeit, der Familie und des Freundeskreises, die von der Unschuld des Angeklagten und später Verurteilten überzeugt sind. Fraglos: Ein Freund, ein Bruder ist kein Mörder, kann kein Mörder sein, deshalb muss seine Verurteilung mit allen Mitteln verhindert werden, schließlich bekennt er sich auch niemals schuldig.
15 Jahre nach der Verurteilung schickt Autor Poschenrieder eine Journalistin aus, die die alte Clique interviewt. Mündlich oder schriftlich, will die namen- und gesichtslose Frau wissen, woran sich jede(r) Einzelne erinnert und wie sie heute zum Freund von damals stehen. Poschenrieder lässt die Freund:innen, mitunter auch den Anwalt, einfach reden, so erfahren die Leserinnen, wie das feste Band zwischen den fünf Verbliebenen trotz der anfangs krampfhaften Bemühungen, dem Angeklagten die Treue zu halten, allmählich Risse bekommt und die Gruppe zerfällt. Als der Freund verhaftet worden ist, waren Sabine und Emilia, Sebastian, Till und Benjamin um die 20, jetzt sind sie Mitte 30, haben einen Beruf, eine Familie, ein Leben als Erwachsene, keine(r) hat mehr Interesse am Schicksal des Verurteilten, und auch untereinander haben die Fünf kaum noch Kontakt. Auch dass der im Buch namenlose Freund den Mord wirklich nicht begangen hat, bezweifeln inzwischen manche. Doch für alle ist die "alte Geschichte" erledigt, wird verdrängt, will vergessen werden.
So richtig warm werde ich mit keiner / keinem von ihnen. Die Aneinanderreihung von Aussagen und Statements ist auch schwer zu lesen, mehr Drama als Roman. Dass sie dem Richter ein Vorurteil andichten und nicht bemerken, dass sie alle das Gleiche machen, nur vice versa, fällt ihnen gar nicht auf. Allerdings gibt „Ein Leben lang“ reichlich Stoff zum Nachdenken und Diskutieren. Die Fragen, was Freundschaft bedeutet, was von dieser verlangt wird, ob sie ewig halten muss, und ob man auch einem Mörder die Treue halten muss, werden nicht beantwortet. Diese Aufgabe überlässt Poschenrieder den Leserinnen. Der Verlag Diogenes nennt auch dieses Buch einen Roman, damit ist die Enttäuschung einprogrammiert.
Damit meine Liebe zu Christoph Poschenrieders literarischen Werken nicht erlahmt, werde ich schnell ein wenig im Roman „Das Sandkorn“ oder im „Kind ohne Namen“ blättern. Darin zeigt der Autor, wie schön und fesselnd er erzählen kann.
Christoph Poschenrieder: „Ein Leben lang“, Diogenes, 2022. 304 Seiten. € 25,70.