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Gabriele Sonnberger: „Abschied von der Heimat“

Autorin Gabriele Sonnberger: Böhmische Familiensaga

Ein Debüt, das sich lesen lassen kann, der Auftakt zu einer dreiteiligen „böhmischen Familiensaga“. Für ihr Debüt hat sich Gabriele Sonnberger vom Schicksal ihrer Mutter inspirieren lassen, die, wie die Romanfigur Erika, im südböhmischen Dorf Hohenfurth (Vyšší Brod) aufgewachsen ist. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs und der Gründung der Tschechoslowakei erhalten alle deutschen Bewohner den amtlichen Befehl, das Land sofort zu verlassen. In „Abschied von der Heimat“ erzählt Sonnberger von Erikas sonnigen Kinderjahren und den schwierigen Schuljahren mitten im 2. Weltkrieg bis zur Vertreibung danach.

Sonnberger kann erzählen, und an den verschwenderischen Einsatz von Adjektiven (kein Apfel, der nicht rotbackig, kein Männerarm, der nicht muskulös, kein Knabenkörper, der nicht sehnig ist) hat man sich schnell gewöhnt, man überliest diese Schmalzanteile einfach. Düren 1634, Modell im Stadtmuseum. 1929 ist die 5jährige Erika aus dem besetzten Düren ins böhmische Hohenfurth gereist. © Madita01 / wikipediaDoch die Autorin hat genauestens recherchiert und weiß die Charaktere lebendig und glaubhaft zu zeichnen. Da ist die strenge Tante Mimi, die die fünfjährige Erika 1929 aus Düren im Rheinland zu sich nach Böhmen holt, um ihre Schwester zu entlasten. Das Kind betrachtet sie nun als ihren Besitz und erzieht Erika mit biblischer Strenge. Mimi ist eine verknöcherte, scheinbar hartherzige Frau, doch die Autorin wirft einen Blick zurück in Mimis Jugend und schildert, ohne zu psychologisieren, warum die Tante geworden ist wie sie ist. Notgeld der Stadt Düren. Die steigende Inflation während der französischen Besetzung nach dem Ersten Weltkrieg versuchte die Stadt mit eigenem Notgeld zu bekämpfen. © gemeinfrei
Mit fünf Jahren reist Erika also allein von Düren nach Hohenfurth, wo sie von 1929 bis 1945 wohnen wird. Erika darf das Gymnasium in Budweis (České Budějovice) und Krumau (Český Krumlov) besuchen. Sie teilt ein Zimmer mit ihren Freundinnen Emmi und Oli, doch das Leben ist nicht so rosig, wie die jungen Mädchen es gerne hätten. Das Böse manifestiert sich nicht nur in strammen Nationalsozialisten, sondern auch ganz privat in dem blondgelockten (!) Knaben Coelestin als Inkarnation des Teufels. Einst gab Erika dem kleinen Buben, der zu seinem Onkel in Hohenfurth geschickt worden ist und in ihren Abteil im Zug saß, den Rest einer Lakritzstange, um ihn zu trösten. Seitdem lässt der Heranwachsende nicht mehr von ihr ab, verfolgt sie als bedrohlicher Schatten und weil sie nicht willig ist, braucht er Gewalt, trachtet mit allen Mitteln danach, sie zu vernichten. Es ist klar, das Coelestin ein Supernazi wird, der in der Hierarchie schnell aufsteigt und dem jedes Mittel recht ist, Erika und ihren Freundeskreis zu quälen.In Hohenfurth verbrachte Erika ihre Kinder- und Jugendzeit. Den Blick auf das Klosterund  hat Honza Groh (Jagro) 2010 fotografiert. © CC lisence, share alike Man kann es kaum glauben, dass ein solcher Mensch tatsächlich gelebt haben kann, doch die Geschichte lehrt eines Besseren, menschliche Teufel treiben ihr Unwesen. Der erdachte Coelestin hat kein reales Vorbild, ist eher aus vielen Charakteren zusammengesetzt, um das Gemeine, Machtgierige und Mitleidlose zu zeigen.
Viele der handelnden Personen sind erfunden, doch viele andere sind realen Personen nachgebildet, wie auch die erste große Liebe Erikas. Heinz Riedl hat tatsächlich gelebt. Sonnberger lässt ihn in Hohenfurth zur Schule gehen, dass er Oberleutnant zur See war, ist allerdings verbürgt. Aus der geplanten Heirat ist jedoch nichts geworden, Riedl ist im April 1945 bei der Versenkung seines Bootes U 242 im St.-Georgs-Kanal ums Leben gekommen. Er war erst 24 Jahre alt. Mit ihm zeigt die Autorin das Dilemma vieler Menschen jener Zeit auf. Logo der Edelweisspiraten, Jugendgruppen, die sich gegen das NS-Regime stellten. ©  zakkde / wikipediaAuch im Grund anständige und sozial gesinnte Menschen erlagen den Parolen und der strengen Ordnung der Nationalsozialisten. Heinz war so einer, und in seine warmherzige, menschliche Seite hat sich Erika verliebt, was ihre Freundinnen ebenso erstaunt wie möglicherweise sie selbst, war sie doch mit dem Regime nicht einverstanden und mit Mitgliedern der Edelweißpiraten befreundet, die sie auch versteckt hat. Doch es ist schon so, wo die Liebe hinfällt, kann man sich in den jugendlichen Sturm- und Drangjahren nicht aussuchten. Der Krieg war eigentlich schon zu Ende, das für 1000 Jahre geplante Reich bereits zerfallen, doch Heinz glaubt noch immer an den Endsieg und will seinen Eid nicht brechen. Erika wartet vergeblich auf seine Rückkehr.
Cover des 1 .Bandes, "Abschied von der Heimat", der "böhmischen Familiensaga von G. Sonnberger. © Lübbe Der erste Teil der böhmischen Familiensaga ist angenehm zu lesen und vor allem auch all jenen zu emüfehlen, die nicht mehr dazugekommen sind, ihre Großeltern zu befragen. Auch Populärliteratur hat ihre Meriten. Die Autorin bedient die Leserin zwar auch mit ein paar Klischees und Kitschelementen, doch Schwarz-Weiß-Malerei liegt ihr nicht, sie zeigt die Vergangenheit so komplex, wie sie für die Einzelnen tatsächlich war. Heinz, der Bräutigam, und auch die verknöcherte Tante Mimi, die an die Berichte von der Vertreibung aus ihrem Haus nicht glauben will und eisern wartet, bis der wütende Mob ihr das Dach über dem Kopf anzünden, tragen zwei Seelen in der Brust und auch Erika, aus deren Perspektive die Vorkriegs- und Kriegsjahre erzählt werden, ist keineswegs ein braves Mädchen und tapfer kann eine Heranwachsende auch nicht in jeder Situation sein. Bei Kriegsende ist sie 21, das Alter, in dem man 1945 volljährig wurde. Darüber berichtet Gabriele Sonnberger im nächsten Band.

Gabriele Sonnberger: „Abschied von der Heimat. Eine böhmische Familiensaga“, Lübbe, 2021. Paperback, 524 Seiten. € 15.50. E-Book, € 4,99
„Aufbruch voller Sehnsucht“, Teil 2, Erscheinungsdatum 27. 5. 2022.
„Zeiten neuer Hoffnung“, Teil 3, Erscheinungsdatum: 30.9. 2022.