Mick Herron: „Real Tigers“, Spionagekrimi
Real Tigers“ ist der dritte Teil der „Slough House“-Serie des britischen Autors Mick Herron. Schon der erste Band, „Slow Horses“ (Lahme Gäule), war 2010 in Großbritannien ein Riesenerfolg und ist auch mehrfach prämiert worden. Jetzt arbeitet Herron bereits an der siebten Folge, alle bisherigen haben Preise erhalten. Auch die deutsche Übersetzung von Stefanie Schäfer (Diogenes Verlag) kann süchtig machen. Herron ist es gelungen, Spionagethriller der ganz anderen Art zu schreiben.
Er durchleuchtet den MI5, den britischen Inlandsgeheimdienst, ohne, wie viele seiner Vorgänger des Spionagegenres, jemals ein Insider gewesen zu sein. Deshalb: reine Fiktion, doch ganz nah an der Wahrheit. Gut und böse gibt es nicht, nur oben und unten. Wer oben ist, will es mit allen Mitteln bleiben, wer unten ist, hat wenig Mittel, um nach oben zu gelangen.
In Front der arroganten, intriganten Elite von Regent’s Park (kurz der Park genannt), dem MI5-Hauptquartier, steht an der Aldersgate Street nahe dem Barbican Centre, das „Slough House“, sumpfiges oder schlammiges Haus könnte man das erfundene Domizil mit der echten Adresse nennen. Mit der Stadt Slough im Süden von England hat es nichts zu tun. im Londoner Slough House werden die „Slow Horses“ untergebracht. Lahme Gäule werden jene Mitarbeiter*innen genannt, die aus dem Park ausgelagert worden sind, weil sie Fehler begangen haben oder einer Intrige zum Opfer gefallen sind. An der Spitze dieses unglücklichen Trüppchens steht Jackson Lamb, von dem die Leserinnen nicht erfahren, warum er im Slough House gelandet ist, während die Biografien der anderen, am Anfang sind es acht, detailreich beschrieben werden. Sie überleben nicht alle, allerdings sorgt der Park ganz schnell für Nachschub. Der Kern der Gruppe, Jackson Lamb, seine Assistentin, die trockene Alkoholikerin Catherin Standish und der tüchtige River Cartwright und der Nerd Roderick Ho überlebt, zumindest bis um vierten Band („Spook Street“). Auch im Park, nach dem sich diese unglücklichen gescheiterten Existenzen voll Hoffnung verzehren, wobei dort gewartet wird, dass sie von selber kündigen und verschwinden, bleiben den Leserinnen einige Bekannte erhalten, vor allem die beiden rivalisierenden Frauen, Dame Ingrid Tearny, Chefin des MI5, und Diana Taverner (Lady Di), die Vizechefin, die daran arbeitet, Dame Ingrid den Sessel unter dem Hintern wegzuziehen. Beiden sitzt das falsche Lächeln bereits so fest, dass sie sich sogar selbst im Spiegel angrinsen. Nick Duffy ist ein Hund, das sowieso, aber auch weil er der Chef der „Dogs“, der internen Ermittlung im MI5, ist. Eine Bulldogge, die ihre Zähne nicht nur fletscht. Oder James „Spider“ Webb, der den aufstrebenden River ein Bein stellt, das ihn ins Slough House katapultiert. Doch River bringt die Leiter, auf der der gemeine Spider hochklettern will, zu Fall, Spider Webb fällt mit. Jackson Lamb, Einäugiger unter Blinden und eine dennoch eine Legende im Park, doch garantiert kein Lamm, rücksichtslos und grausam geht er mit seinen Team um, wirft mirnixdirnix welche hinaus, um zu testen, wie sie reagieren. Wie er erwartet hat, bewährt sich das Paar in höchster Not. Lamb hat eine spitze Zunge und einen fetten Bauch, ist Kettenraucher und auch dem Whiskey nicht abgeneigt. Weitere abstoßende Details erspare ich den geneigten Leserinnen, denn so wirklich unsympathisch ist Jackson Lamb nicht, nur ziemlich unappetitlich. Immerhin steht er für seine Mitarbeiter*innen gerade. Wenn sie in Gefahr sind, erwacht Lamb aus seiner Trägheit, scheucht seine Crew auf, um Moral und Legalität kümmert er sich nicht. So durchschaut er auch, wer und was hinter der Entführung von Catherin Standish am Beginn von „Real Tigers“ steckt. Das heißt, der Beginn ist meist ruhig und gebremst, wie es von lahmen Gäulen zu erwarten ist.
Doch der Show Down hat es in sich, mit Bomben und Granaten klärt sich alles auf, und die Oberschlauen aus dem Park stehen wieder einmal als begossene Pudel da.
Herron geht mit seinen Figuren überaus distanziert und kühl um, er liebt sie nicht und hasst sie nicht, sondern beobachtet sie, sieht ihre Fehler und Schwächen, leuchtet in ihre Vergangenheit und bleibt mitleidslos. Deshalb darf sich auch die Leserin an keine der Personen im Slough House hängen, oder sich gar in eine Liebesgeschichte kuscheln, (die wird von einer Bombe beendet), und manchen, die man durch lange Bekanntschaft (Herron tut‘s nicht unter 450 Seiten) ein wenig lieb gewonnen hat, wird von den feindlichen Kollegen im Park ohne Warnung der Kopf weggeblasen.
Mit Anspielungen auf Spionagekrimis aus dem 20. Jahrhundert, beißendem Humor und ständigem Perspektivenwechsel bietet der Autor sowohl Spannung wie beste Unterhaltung. Natürlich geht so manches Bonmot oder Wortspiel in der deutschsprachigen Ausgabe verloren, weil sie nicht zu übersetzen sind. Herrons Erzählweise lässt glauben, dass er die Leserin persönlich anspricht, sie auserwählt hat, die unerhörten Geheimnisse des MI5 zu erfahren. Der Bericht ist nicht wahr, aber perfekt erfunden. Wenn am Ende Ruhe nach dem Orkan eingetreten ist, alle Geheimnisse und Verbrechen des Secret Service für dieses Mal aufgeklärt sind, schleicht jemand, vielleicht eine Katze, vielleicht ein Geist durch Slow House, geht in alle Zimmer, die teilweise leer sind, bis er endlich ganz oben angelangt ist und die Ursache des Schnarchens findet, das er schon beim Eintritt in das schmale Haus gehört hat. Jackson Lamb öffnet die Augen und hat eine Pistole in der Hand, der Geist entschwindet. – Die Leserin erfährt rechtzeitig, wer ihn ausgehaucht hat. Das marginale Problem mit der Leiche werden die Slow Horses schon lösen. Bis der 4. Band übersetzt ist, scheint die Welt an der Themse wieder in Ordnung zu sein.
Mick Herron: „Real Tigers“, Ein Fall für Jackson Lamb (Nr 3), aus dem Englischen von Stefanie Schäfer, Diogenes 2020. 480 S. € 18,50. E-Book € 14,99.