Delia Owens: „Der Gesang der Flusskrebse“, Roman
Delia Owens ist Zoologin und lebte lange Zeit als Verhaltensforscherin in Afrika. Kürzlich ist sie nach North Carolina gezogen, wo sie die Sommer ihrer Kindheit verbracht hat und den Schauplatz ihres ersten Romans gefunden hat. Nach mehreren Sachbüchern über das Verhalten von Tieren hat sie dort ihren ersten Roman geschrieben. Ihre Protagonistin, Kya, lernt aus dem Verhalten der Tiere in der Sumpflandschaft zu überleben.
Kya ist zehn Jahre, als ihr Vater, ein traumatisierter Mann, der sich dem Alkohol ergeben hat, verlässt. Mutter und Geschwister sind schon lange aus der Enge im Marschland geflohen. Das einsame Kind wird von den Bewohnern des Dorfes verachtet, später auch gefürchtet. Es herrscht eine strenge Hierarchie, die weißen Dorfbewohner*innen sind die Guten, die Familien, die arm und ohne Rechte in den Sümpfen leben, werden missachtet, die Schwarzen müssen am Rand der Siedlung bleiben und sind auch nicht wohlgelitten. Klar dass die sind, die sie unterstützen und ihr Halt geben. Kya wartet viele Jahre, dass ihre Mutter zurückkehrt, jeden Morgen seht sie vor dem Haus und spät auf den Weg, den die Mutter ohne Abschiedsgruß gegangen ist. Sie weigert sich in die Schule zu gehen, dort wird „das Sumpfmädchen“ nur ausgelacht, kann weder lesen noch rechnen, hat die Möwen als einzige Freunde. Sie lernt von den Tieren, wie man sich tarnt, und auch wie sie Muscheln sammeln kann, um sie zu verkaufen, um das nötige Geld für den täglichen Bedarf zu erhalten. Sie lernt, sich auf niemanden zu verlassen, unabhängig und frei zu sein. Lieber friert sie, isst vor allem Maisgries und schläft auf dem Boden, als sich zu beugen und anzupassen.
Die Geschichte folgt zwei Zeitlinien, die sich am Ende treffen. Während Owens vom Aufwachsen Kyas, ihrer erwachenden Sexualität und der Begegnung mit zwei unterschiedlichen jungen Männern erzählt, folgt die andere Linie einem Krimi, der mit dem Tod eines jungen Dorfhelden einsetzt, dessen Leiche gefunden wird, als Kya längst erwachsen ist. Gut gelungen ist der Autorin dabei die Balance zwischen Tod und möglichem Verbrechen und dem Leben Kyas in der Natur, mit den Pflanzen und Tieren.
Einer der beiden jungen Männer, zu denen Kya Vertrauen fast, ist Tate, ein schüchterner Junge, der ihr Lesen und Schreiben beibringt. Kya wird zur begeisterten Leserin, bald kann sie durch wissenschaftliche Literatur ihr Wissen über die Tier- und Pflanzenwelt erweitern. Sie legt eine bemerkenswerte Sammlung von Vogelfedern und Muscheln an. Die Beziehung bleibt platonisch, und Tate traut der wilden und unabhängigen Kya nicht zu, in seiner Welt, abseits des Sumpfes, zu leben und verlässt sie, um in der Stadt zu studieren. Sie geht ein geheimes Verhältnis mit dem Playboy Chase ein. Er verspricht ihr die Ehe, doch nach einer Zeitungsmeldung erkennt sie, „dass es ihm nur um Sex“ ging und sie trennt sich von ihm. Kya will es den Glühwürmchen und der Gottesanbeterin nachmachen. Im Buch „Sneaky Fuckers“ („Raffinierte Ärsche“) lernt sie, dass Leuchtkäferweibchen mit codierten Blinkenzeichen die Männchen und andere Tiere in den Tod locken, auch dass die Gottesanbeterin Kopf und Brustkorb ihres Partners zu fressen beginnt, während der Unterleib noch mit ihr kopuliert. Das imponiert ihr. „Weibliche Insekten“, denkt Kya „können mit den Männern umgehen.“
Dann kommt Tate vom College zurück und nähert sich wieder vorsichtig an Kya an. Als er die geordnete Sammlung sieht und erkennt, wieviel Kya über die Tierwelt im Marschland zu sagen hat, vermittelt er ihr das Angebot von einem Verlag, ihre Kenntnisse und Erfahrungen zu veröffentlichen. Bald wird Kya zu einer anerkannten Fachfrau für die Natur im Sumpfgebiet von North Carolina. Was vom ersten Kontakt Tates mit Kya an klar ist, die beiden werden ein Paar und wenn sie nicht gestorben sind …
Die Handlung spielt in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, von 1952 bis 1970. Doch was das Verhalten der Menschen betrifft, hat sich nicht viel geändert. Das Klassenbewusstsein ist nicht geringer geworden und auch heute würde die unangepasste Kya noch als „böse und dreckig“ angestoßen werden und die Community der Schwarzen muss sich in vielen Gebieten den Zugang zu den leiblichen und geistigen Genüssen der Weißen noch immer erkämpfen.
So großartig der erste Teil des Romans ist, in dem geschildert wird, wie sich die Familie Kyas allmählich auflöst und sie, ganz allein auf sich gestellt, um das Überleben kämpft, wie die romantische Beziehungen mit dem anständigen jungen Tate beginnt und wie Kya ein Teil der Natur wird, so kitschig wird der Roman gegen Ende. Nachdem die Leiche von Chase gefunden worden ist, wird Kya als Mörderin verdächtigt und angeklagt. Im Prozess jedoch kann sie nachweisen, dass sie zum angenommenen Tatzeitpunk gar nicht im Ort war. Sie hatte sich weit entfernt mit ihrem Verleger getroffen. Sie wird freigesprochen. Ob sie die Wahrheit ausgesagt hat, erfährt Tate erst nach ihrem Tod. Kya, das Marschmädchen, die als Wissenschaftlerin erfolgreiche Autodidaktin, ist 65 Jahre alt geworden. Tate, ihr Lebensmensch, kann endlich ihr Labor betreten.
Owens gelingt es, die Charaktere überzeugend und lebendig zu gestalten, mit ihrer bilderreichen Sprache für die Beschreibung der Natur weckt sie alle Sinne. Ich höre die Möwen kreischen, schmecke das Salz der Muscheln, fürchte, mich in den Kanälen und Bächen des Sumpfgebietes zu verirren, bin mit Kya im Boot, wenn der Sturm losbricht.
Die kämpferische und unbeugsame Frauenfigur von Kya und Owens Kenntnis der Natur lassen den Kitschverdacht schnell verstummen. Delia Owens hat einen intelligenten Bildungsroman, einen glaubwürdigen Unterhaltungsroman und zugleich ein Drama geschrieben. Die Liebesgeschichte ist eine Verneigung vor den Leserinnen. Außerdem liegt Owens natürlich mit ihrer Liebe zur Natur im Trend. Ich geniere mich nicht, den Roman zu meinem (bisherigen) Lieblingsbuch des Jahres zu erklären. Es fehlt mir nicht an Unterstützung: „Bestseller“ in der New York Times, die Rechte gehen weg wie warme Semmeln, und der Film wird bereits vorbereitet. Die Schauspielerin und Produzentin Reese Witherspoon hat sich auf den Roman gestürzt. Da kann ich nur raten: Stürzen Sie sich auch.
Delia Owens: „Der Gesang der Flusskrebse“, aus dem amerikanischen Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, hanserblau 2019. 460 S. € 22,70. Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich.