Marie Kreutzer: „Der Boden unter den Füßen“
Eine Frau zwischen Scylla und Charybdis. Auf der einen Seite der Ehrgeiz, im anstrengenden Job als Unternehmensberaterin erfolgreich zu sein. Auf der anderen die Sorge um ihre psychisch kranke Schwester, deren Vormund sie ist. Caroline (Valerie Pachner), Lola gerufen, taumelt zwischen Wahn und Wahnsinn und ist drauf und dran, den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Der Boden unter den Füßen“, der jüngste Film von Marie Kreutzer, war in Berlin für den Goldenen Bären nominiert und als Eröffnungsfilm zur Diagonale in Graz eingeladen, wo Kreutzer für den Thomas-Pluch-Drehbuch-Preis auf der Liste steht.
Natürlich muss man sich freuen, wenn ein österreichischer Film Hand und Fuß hat, eine realistische Geschichte erzählt und mögliche Fakten gut recherchiert sind. Nicht nur mit Valerie Pachner als Lola, auch mit Pia Hierzegger als deren Schwester Conny und Mavie Hörbiger als Lolas Vorgesetzte und Geliebte hat Kreutzer eine gute Wahl getroffen. Alle drei Darstellerin können überzeugen. So ganz überzeugen kann mich der Film jedoch nicht.
Kreutzer konnte sich nicht wirklich entscheiden, was der Kern ihres Film sein sollte. Wem erzählt sie die Geschichte und warum? Wollte sie einen Psychothriller drehen oder eine Frau kurz vor dem Burnout zeigen, oder die Methoden der Psychiatrie kritisieren? So ganz festlegen konnte sie sich jedoch nicht.
Lola will erfolgreich sein und hat einen Beruf gewählt, der keine Luft zum Leben lässt. Immer schwieriger wird es, auch noch die Sorge um die Schwester, gar ein Leben mit ihr – Lola und Conny sind schon als Kinder verwaist – unterzubringen. Eingespannt zwischen Sitzungen und geschäftlichen Abendessen, zwischen einem 48 Stunden Schichtdienst und heiklen Projekt-Präsentationen, hat sie gerade Zeit für ein paar Fitnessübungen und Sex mit ihrer Chefin.
Nein, mit der gleichgeschlechtlichen Beziehung setzt sich Kreutzer nicht auseinander, dass es die Chefin ist, die der nötigen Entspannung dient, ist Zufall. Wie dieser Zufall zustande kam, ist dennoch bemerkenswert. Marie Kreutzer erzählt das im Interview mit Karin Schiefer (afc). Sie wollte die Rolle gerne mit einem Mann besetzen. Doch die ersten beiden Wunschkandidaten lehnten ab, und die Regisseurin erfuhr von Agenturen und Kollegen, dass sie keinen Mann für die Rolle des Chefs und Geliebten der Hauptfigur bekommen würde, weil die Rolle Männern zu klein sei. Sie müsse sich mit einer Frau begnügen. Das tat sie schließlich und hat mit Mavie Hörbiger keineswegs einen Ersatz gefunden, sondern eine großartige Schauspielerin, die eine perfekt eiskalte Chefin spielt.
Zu kalt ist mir allerdings der gesamte Film, der in mir keinerlei Emotionen weckt. Lange Gänge, über die Lola mit viel zu hohen Absätzen stolpert. Schicke Restaurants und ungemütliche Büros, in denen der beinharte Konkurrenzkampf herrscht. Und dahinter kein Privatleben, aber die hilfsbedürftige Schwester. Das Verhältnis mit Elise, der Chefin, nützt ihr nichts, die gibt den interessanten Job in Sidney einem Kollegen. Der steigt zum Associated Principal auf. Lola ist draußen aus dem Spiel, zumal sie ihre Schwester aus dem Spital geholt und in ihrer Wohnung einquartiert hat. Sie muss nun zwischen Rostock, wo sie eine Präsentation vorbereitet, und Wien hin und her rasen. Das Szenario ist endlos fortzusetzen, Lösung gibt es keine.
Spannung entsteht, weil Kreutzer die Grenzen zwischen Realität und Wahn verwischt. Lola bekommt Anrufe ihrer Schwester aus dem Spital, doch die hat gar kein verfügbares Telefon. Ist vielleicht sie selbst bereits wahnsinnig? Kreutzer gibt keine Antwort darauf. Sie erklärt eigentlich überhaupt nichts, kommentiert nicht und verzichtet auf platte Witzchen, die heimische Filme so oft unerträglich machen, das macht den Film anregend. Doch es sind die üblichen allgemein bekannten Bilder aus dem Leben einer ehrgeizigen Frau, für die der berufliche Erfolg das Wichtigste ist. Lola hat eine hilfsbedürftige Schwester, andere haben Kinder, oder eine alte Mutter. Das ist Alltag, üblicher Alltag von vielen. Vielleicht spazieren Billa-Kassierinnen oder Krankenschwestern auch am Rande des Wahnsinns. Supertoughe, durchtrainierte, coole Power-Frauen sind halt schöner als die Frau an der Kassa im Supermarkt. So erzählt Marie Kreutzer nichts Neues, zeigt dank Leena Koppe schöne Aussichten aus Panoramafenstern und die erleuchteten Fenster eines Pavillons am Steinhof und die herbstlichen Alleen, wo Lola ihren Fitnesslauf mit dem Mobiltelefon am Ohr absolviert. Am Ende steht sie einsam am frischen Grab der Schwester.
Marie Kreutzer: „Der Boden unter den Füßen“, Regie und Drehbuch: M. Kreutzer; Kamera. Leena Koppe. Mit Valerie Pachner, Pia Hierzegger, Mavie Hörbiger, Michelle Barthel, Marc Benjami. Kamera: Leena Koppe. Verleih: Filmladen. Im Kino ab 22.3.2019