Gregor Schmidinger: „Nevrland“.
Nach zwei Kurzfilmen, die auf YouTube 12 Millionen Mal angeklickt worden sind, hat der österreichische Regisseur Gregor Schmidinger, 35, seinen ersten Spielfilm gedreht und ist dafür bereits bei sämtlichen Filmfestivals, darunter die Diagonale und das Max-Ophüls-Filmfestival, ausgezeichnet worden. Der junge Hauptdarsteller von „Nevrland“, der Schauspiel-Debütant Simon Frühwirt, erhielt bei der Diagonale in Graz den Schauspielpreis. Am 13. September ist der Kinostart für diesen exzellenten Film, der mich ebenso verstört wie begeistert hat.
Gregor Schmidinger erzählt selbst, worum es ihm in seiner Geschichte geht. Er hat auch das Drehbuch geschrieben, so ist es doppelt „seine“ Geschichte, weil auch seine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse eingeflossen sind. Wie seine Hauptfigur, der 17jährige Jakob, intensiv und glaubhaft dargestellt von Simon Frühwirt, litt auch Schmidinger unter massiven Angststörungen.
Angststörungen sind die am häufigsten diagnostizierte psychische Erkrankung in der westlichen Welt und überproportional in der Millennium-Generation zu finden. Auch mein Leben wurde zehn Jahre lang von einer teils sehr lähmenden Angststörung beeinflusst. Nevrland war eine Möglichkeit, mich auch auf eine künstlerische Art mit dem Thema Angst zu beschäftigen und zugleich mit dem Thema der Selbstwerdung. …Ich wollte einen Film aus der Post-Gay-Perspektive machen, das heißt, die Homosexualität der Hauptfigur nicht ins Zentrum zu rücken oder sie gar zu problematisieren.…
Schmidinger hat seinen Film nicht für eine bestimmte Gruppe geschaffen, sondern für ein gemischtes Kinopublikum. Niemand muss sich also fürchten, mit ausufernden Sexszenen oder Ausschnitten aus Pornofilmen belästigt zu werden. Wie Schmidinger sein Publikum in den Film hineinzieht, ja das Publikum nahezu ins Nervenzentrum von Jakob führt, seine Albträume und Fantasien sichtbar und spürbar macht, ist großartig und überaus fesselnd.
Schmidinger hat in Salzburg Digitales Fernsehen studiert und in Los Angeles das Drehbuchschreiben erlernt und weiß, dass ein Film vor allem ein Bildmedium ist. So spricht Jakob Anfangs überhaupt nicht, kommuniziert auch später mit dem gleichaltrigen Krystian nur in kurzen Sätzen. Jakbo hat den Amerikaner Krystian (Paul Forman), der in Wien Kunst studiert, im Gay-Chat und später auch persönlich kennengelernt. Krystian ist wesentlich reifer als Jakob und wird für ihn zum Führer ins Leben, zum Freund und Mentor. Doch zuerst führt er ihn in die Schwulen-Disco, zu Techno-Partys und ins Kunsthistorische Museum. Als Jakobs geliebter Großvater gestorben ist, denkt er über den Tod nach und möchte gerne wissen, wie es ist zu sterben. Krystian gibt ihm eine Dosis DMT, ein Halluzinogen, dessen Wirkung angeblich einer Nahtoderfahrung ähnlich ist.
Wer sich jetzt noch immer in der Realität befindet, muss sich anschnallen, damit er / sie nicht für immer ins All geschleudert wird. Jakob durchlebt visuell und akustisch einen wahren Horrortrip. Die Fraktale und wirbelnden Farben, die Blitze und Stroboskopeffekte, die Jakobs Gehirn produziert, prasseln ebenso auf die Zuschauer*innen nieder wie die geheimnisvollen Stimmen, die hohlen Undergroundklänge und unheimlichen Geräusche. Gleich nach der Einnahme des Mittels beschwert sich Jakob, dass er „keine Fraktale gesehen hat, nicht durch Tunnels gereist und keinen Maschinenelfen begegnet ist“. Doch der Trip nach Nevrland beginnt erst und wir können keine Voyeur*innen mehr bleiben, wir sind mitten drin und treffen im fraktalen Wald die Maschinenelfen.
Während der gesamten 90 Minuten wechselt Schmidinger rasant von der Realität in die Surrealität, von der greifbaren Welt in die virtuelle. Der Höhepunkt aber ist der große Showdown, nachdem Jakob seine Kindheits-Ich trifft und sich mit ihm versöhnt. Vielleicht hat sich das schwarze Loch in Jakobs Brust geschlossen.
Jakob geht brav in seine Therapiestunden, in denen ihm der Psychiater erklärt, dass die Angst auch ein Schutzschild sein kann (Schmidinger hat seinen Wilhelm Reich gelesen). Diesen Psychiater spielt der Filmregisseur und Schauspieler Markus Schleinzer („Angelo“, „Michael“), und er hat seinen jüngeren Kollegen auch künstlerisch unterstützt. Das wirkt sich aus: Starke Bilder, harte Schnitte, wenig Worte, Musik nur, wenn sie notwendig ist, keine Psychologisierung, keine Interpretation. Ein Film, der über das Rückenmark ins Hirn und unter die Haut fährt. Schmidinger erzählt eine relevante Geschichte und wird auch Cineast*innen mit der filmische Technik, durch Schnitt und Kamera (Jo Molitoris) begeistern. Wer seichte Unterhaltung erwartet, wird schwer enttäuscht.
„Nevrland“, Regie und Drehbuch: Gregor Schmidinger, Kamera: Jo Molitoris, Original-Ton: Gregor Kienel, Sounddesign: Thomas Pötz / Cosmix. Mit Simon Frühwirth, Paul Forman, Josef Hader, Wolfgang Hübsch, Markus Schleinzer und anderen. Ab 13. September im Kino. Verleih Filmladen.