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„Negotiations“ – Ein Resümee

Negotiations – Verhandlungen, jeden Tag neu.

Tanzen, tanzen, tanzen, täglich acht Stunden, ein Jahr lang, vom 27. Jänner 2018 bis 26. Jänner 2019. 13 Tänzer*innen bewegen sich abwechselnd in einem kleinen Lokal in der Wiener Neustiftgasse. Freier Eintritt, Publikum jederzeit willkommen, darf raus und wieder rein, einmal, mehrmals, ganz nach Belieben. Zwei Tage nach dem festlichen Finale im Zimmer für ein Jahr wird im Tanzquartier, Veranstalter des Megaprojekts, eine erste Bilanz besprochen. Beteiligte aus dem Zentrum, also die Künstler*innen, und vom Rand, Zuschauerinnen und Zuschauer, tauschen ihre Erfahrungen aus, stellen Fragen und bekommen Antworten. „Reflexions“ dient dem Rückblick und Erfahrungsaustausch.

Tanzquartier Filiale Neustiftgasse: Bis Ende Jänner täglich acht Stunden geöffnet.  Der Beginn des Unterfangens liegt weit zurück, die Vorbereitungszeit war lang und mühsam. Eine Struktur musste erfunden, ein Raum gefunden und adaptiert, die Mitwirkenden angesprochen und ausgewählt, Grundregeln, an die sich alle Auftretenden zu halten haben, festgelegt werden. Bei aller Freiheit einer Performance kennen die Tänzer*innen, acht Frauen, fünf Männer, choreografische Parameter: „"Repetition and Transformation“, leicht zu übersetzen, aber nicht so schön gereimt: Wiederholung und Veränderung,

„Negotiations / Verhandlungen“ nennt Alexander Gottfarb, der Initiator, Choreograf und Tänzer das Projekt, denn verhandelt wird alles Mögliche und mit allen Möglichen, auch zwischen Ausübenden und Zuschauenden. Selbst hat Gottfarb bereits Erfahrungen mit Langzeit-Performances gesammelt. 2016 verhandelt er mit sich selbst im Solo „A Matter of Belief“, erfährt, was er fühlt, was sich verändert, im Kopf und im Körper, wenn er 72 Stunden als Performer arbeitet. Auch beim Schlafen durfte das geneigte Publikum ihm zusehen. Charlotta Ruth mit Partner: zu zweit muss neu verhandelt werden. Ein Jahr später finden neue Verhandlungen statt, nicht so lang, dafür intensiver: Gottfarb, Sophie Augot und Raúl Maia von einer Nacht in die andere, mehr als 24 Stunden. Beginn: Freitagabend 21 Uhr, Ende: Samstagnacht 24 Uhr, ein öffentliches Ritual. Stimmt schon, wenn etwas so lange währt, einem Rhythmus gehorcht, zur Gewohnheit wird, möglicherweise auch süchtig macht, wird es auch zum Ritual. Das Thema hat der Soziologe und erfolgreiche Autor Richard Sennett dem Trio vorgegeben: „Together: The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation“ / deutsch:Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält“, ist der Titel des jüngsten Buchs Sennetts, erschienen 2012.

Raul Maia, Partnerin: Jede/r für sich oder beide im Duett?2018 dann ist die mit Hilfe des Tanzquartier zustande gekommene „Duration Performance“ startbereit, noch größer, noch länger, noch intensiver. ist. Bettina Kogler, die Chefin, betrachtet diese Negotiations mit einem besonders warmen Gefühl, ist doch der Start im Jänner 2018 genau mit dem Start der Vorstellungen unter Koglers Intendanz zusammengefallen. Nicht wirklich blind hat Kogler Alexander Gottfarb und seinem Vorschlag vertraut, arbeitet doch der schwedische Tänzer seit 15 Jahren in Wien, Solo oder mit der lockeren Gruppierung The Loose Collective. Kurzerhand ist das ehemalige Geschäftslokal in der Neustiftgasse 31 zur Tqw-Filiale erklärt worden.

Das Lokal ist geschlossen, das Tanzquartier offen und lädt ein zur Informationsrunde. Erklärt muss nichts werden, alle Anwesenden, die bewegten auf der Zimmerbühne, die unbewegt auf der Fensterbank sitzenden, haben so oder so teilgenommen am faszinierenden Projekt. Pawel Dudus zeigt Spannung auch nachdenklich in  Ruheposition. Viele Fragen, die ich an die Tänzer*innen gehabt habe, haben sie sich auch selber gestellt und miteinander in den monatlichen Meetings der zur Gemeinschaft zusammengewachsenen Gruppe (Richard Sennett hätte seine Freude an diesem Ritual der Zusammenarbeit) besprochen. Eine der wesentlichen Fragen der Anfangsmonate war: Wie gehe ich damit um, wenn kein Publikum anwesend ist, auch gerade keine Passantin einen kurzen Blick durch die großen Fenster wirft. Was anfangs ungewohnt war, wurde später ganz normal, Teil der Performance. Der vierstündige Auftritt zerfällt nicht in Minuten der Leere und solche der Fülle, es ist ein Prozess, in dem das Vorher nachwirkt und das Nachher bereits erfahren worden ist. Bald wird die Frage „mit oder ohne Zuschauer*innen“ unwichtig, deren Freiheit – kommen, bleiben, einen Augenblick oder eine Stunde, gehen – ist die Freiheit der Performer*innen.

Patric Redl strebt nach oben.Der begleitende Sound ist täglich derselbe, der Bewegungsablauf auch oder auch nicht, je nachdem, wie die Verhandlungen der Agierenden mit sich selbst ausgehen: „Wo stehe ich, wo gehe ich hin, bewege ich nur die Arme oder den ganzen Körper, gebe ich mich dem Rhythmus hin oder kontrastiere ich ihn?“ Jeder Auftritt verlangt neue Fragen, die zu beantworten sind. Dieselbe Performance ist täglich neu.

Jede Freiheit hat ihre Grenzen, das Publikum kennt sie, doch es wird auch geduldet, wenn es diese überschreitet, spontan die Bühne betritt und mittanzt. Nur bierselige Witzbolde werden sanft hinauskomplimentiert. Auch die Akteur*innen vergessen mitunter Regeln und Disziplin. Pas de trois mit aufgereihten Schuhen: Arrangement für die Fotografin.Das kann passieren, darf auch passieren. Im Backstage-Buch, dem Pendant zum Gästebuch für die oft hymnischen Ergüsse der Zuschauenden, werden solche „notwendigen“ Ausritte besser nicht vermerkt. Aufgegeben hat keine(r) der 13. Durchhalten bis zur Erschöpfung ist Tänzer*innen eine längst vertraute Disziplin. Die Erfahrungen, die sie machen durften, mit Körper und Geist, sind allerdings neu. Und neue Erfahrungen haben auch die Betrachter*innen gewonnen. Bei offenen Türen, dem ebenso offenen Zeitfenster und der täglichen Wiederholung des Events muss auch die Zuschauerin ihre Rolle neu definieren, muss lernen, unerwartete Nähe und Intimität zu ertragen, darf eine neue Geborgenheit genießen.

Eines der attraktivsten und wichtigsten Projekte in jüngster Zeit, aufregender und bedeutsamer als jede durch Europa tourende Großproduktion bekannter Compagnie, ist beendet. Doch die Erfahrungen hben ihre Spuren hinterlasse, werden die Zukunft des Tanzes / der Perforamnce, persönlich und allgemein, beenflussen.
Die letzten Jännertage 2019 sind ebenso Finale wie Ouvertüre, neue Perspektiven haben sich geöffnet, Grenzen verschoben, das Ende ist ein Anfang.

Negotiations“: Konzept und Choreografie: Alexander Gottfarb. Dramaturgie: Guy Cools; Licht: Peter Thalhamer; Komposition: Guenther Berger, ausgeführt von Sophie Augot, Alexander Gottfarb, Raul Maia.
Tänzer*innen: Sophie Augot, Esther Balfe, Alex Deutinger, Pawel Dudus, Soraya Emery, Alexander Gottfarb, Katharina Illnar, Nanina Kotlowsky, Martyna Lorenc, Raul Maia, Anna Maria Nowak, Patric Redl und Charlotta Ruth. ein Jahr bis 29. Jänner 2019, Neustiftgasse 31, Tanzquartier Filiale.
Fotos von Kati Göttfried.
Reflections: Gesprächsrunde von Tänzer*innen und Zuschauer*innen mit Alexander Gottfarb und Guy Cools. 29. Jänner 2019, Tanzquartier.