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Osterfestival Tirol / Tanz: „27 perspectives“

"Twenty-seven perspectives", getanzt auf dem leeren Zeichenblatt.

Mit einem fulminanten Tanzstück der französischen Tänzerin und Choreografin Maud le Pladec erreicht das Osterfestival Tirol 2019 sein Finale. "Tewenty-seven perspectives" zur bearbeiteten Musik von Franz Schubert ist das erste Tanzstück, das Maud le Pladec als neue Direktorin des Centre chorégraphique national d’Orleans geschaffen hat. Nachdem das Ballett mit 10 Tänzer*innen nahezu in ganz Frankreich mit Erfolg gezeigt worden ist, begeistert die Premiere im deutschsprachigen Raum am 21. April in Innsbruck auch die Gäste des Osterfestival Tirol in der Innsbrucker Dogana.

Mit "27 Perspektiven" beruft sich Le Pladec auf den Schweizer Zeichner und Theoretiker Rémy Zaugg (1943–2005), der in seinem Zyklus „27 perspektivische Skizzen“ das Bild „La maison pendu“ von Paul Cézanne (Musée d’OrsayNur scheinbar sind die Bewegungen ungeordnet, die Choreografie ist genau konstruiert. Alle Fotos: © Malyshev.) seziert und analysiert hat, um es ganz zu erfassen. Diese Methode wenden auch Choreografin le Pladec und der englische Komponist Pete Harden (*1979) an. Gemeinsam haben sie die zweisätzige Symphonie in h-Moll von Franz Schubert, genannt die „Unvollendete“ ausgewählt, um sie zu zerlegen, neu zusammenzusetzen, zu erweitern und mit elektronischen Mitteln zu verändern, um den Kern freizulegen. Die Anfangstakte haben wohl nicht nur Schubertverehrer*innen im Ohr, doch auch fürs Gehör hat der Esel eine Brücke gebaut: „Ida, wo gehst du hin, …“. Der Tanz entwickelt sich aus der Musik, gehorcht ihr. Le Pladec drückt das mit einer Frage aus, die sicher nicht beantwortet werden soll:

Kann ich sehen, was ich hören kann, oder kann ich hören, was ich sehen kann? Mit anderen Worten, wie kann man Musik betrachten und Tanz hören?

Synästhetiker können das sicher, Töne sehen, Bewegungen hören, Farben schmecken. Erklärung gibt es für dieses Sinneschaos keine. Sei’s drum, ich sehe großartigen Tanz in individueller Bewegungssprache, aggressiv und dramatisch, sanft und gefühlvoll, durcheinandergewirbelt jedoch keineswegs chaotisch und ordentlich in Reih und Glied gereiht. In ihrer Choreografie für sechs Tänzerinnen und vier Tänzer hält sich le Pladec fast taktgetreu an die von Harden gelieferte Musik. Die Bühne ist leer, die Compagnie tanz auf weißem Papier, das an den Rändern aufgerollt ist, ein Hinweis auf Zaugg und seine 27 Perspektiven. Die Tänzer*innen stürmen auf die Bühne und bewegen sich in der ersten Sequenz, wie es der eigene Körper befiehlt: 10 unterschiedliche Bewegungssprachen und doch ein harmonisches Ganzes.

Die 27 Perspektiven scheinen musikalisch wie tänzerisch mathematisch konstruiert, aus der Gruppe lösen sich Solos und Pas de deux. Auf den Flügeln von Franz Schubert. Einer mutet an wie ein Kampf, gegen das Ende tanz ein sanftes Paar, die Tänzerin verliert all ihre Kraft, der Partner legt sie vorsichtig auf den Boden. Die Gruppe bildet Linien und Kreise, driftet auseinander und ballt sich wieder zusammen, die Tänzerinnen kauern am Boden, die Tänzer verschwinden im Dunkel, tauchen wieder auf, schlendern über das leere Zeichenblatt, als wär's ein Osterspaziergang. Das Licht wird von Éric Soyer taktgenau in sämtlichen Schattierungen von strahlender Helligkeit bis zu schwarzer Dunkelheit, taktgenau eingesetzt, beleuchtet den Tanz, oft auch den Stillstand oder die leere Bühne. Dann durchbricht oft ein klagender Ton den unsichtbar mit Tanz erfüllten Raum, klettert ins Licht oder verklingt in der Nachtschwärze.

Harden lässt keinen Zweifel aufkommen, welche Musik er da bearbeitet, Schuberts Musik darf  immer wieder pur erklingen. DDie Munteren tragen die Müden. a werden auch die Tänzerinnen fast zu Ballerinen, die Tänzer erinnern sich an die trainierte Arabesque, dann lässt Harden seine eigenen  Töne niederprasseln, Tänzerinnen und Tänzer ergreift ein Rausch, sie springen, drehen, kreiseln mit ausgebreiteten Armen, das Licht geht aus, nur noch wirbelnde Schatten sind zu sehen, so konstruiert die einzelnen Perspektiven in ihrer Geometrie wirken, so emotional werden sie durch die Musik, die Tänzer*innen gewinnen immer mehr an Individualität, Solos und Duos erzählen Geschichten. Noch einmal reihen sich alle zehn im Hintergrund mit dem Rücken zum Publikum in einer Linie auf, nehmen einander an den Händen und stürmen nach vorn, noch einmal kreisen sie immer rasanter um sich selbst, bis auch den Zuschauer*innen der Kopf schwirrt. Licht aus, noch kein Applaus. Ordnung im Finale. Zuerst muss sich das Publikum fassen, ausatmen, den Kopf leeren. Dann aber, wenn nach zaghaftem Applaus die Tänzer*innen wieder hinter dem schwarzen Vorhang hervorkommen, sich am Bühnenrand aufreihen, geht der Sturm los: Rufen, Klatschen, Jubeln, Trampeln. Der Dank ist verdient, „Twenty-seven perspectives“ ist eine sehenswerte Choreografie, getanzt von dynamischen, energiegeladenen Tänzer*innen, ein wahres Seh- und auch Hörvergnügen und ein großartiger Abschluss für das Osterfestival Tirol 2019.

„Twenty-seven perspectives“: Choreografie: Maud Le Pladec, Musik: Franz Schubert Symphonie Nr. 8, Die Unvollendete, h-Moll; Sound und musikalische Arrangements: Pete Harden, Soundtechnik: Vincent le Meur; Beleuchtung:Éric Soyer, Lichttechnik: Nicolas Mard; Kostüme: Alexandra Bertaut
Mit: Jeanne Stuart, Amanda Barrio Charmelo, Olga Dukhovnaya, Jacquelyn Elder, Simon Feltz, Maria Ferreira Silva, Aki Iwamoto, Daan Jaartsveld, Louis Nam Le Van Ho, Matthieu Chayrigues. Premiere im deutschsprachigen Raum, 21.4. 2019 im Rahmen von Osterfestival Tirol.