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Ballett „Giselle“, mit Nina Poláková und Kimin Kim,

Kim, Poláková und das großartige Corps der Willis

Der Sommerausklang 2018 an der Wiener Staatsoper gehört den Betrogenen, den Sitzengelassenen, den enttäuschten Bräuten. Die Kirche verstößt sie und schützt die Täter, die Opfer müssen im Wald verscharrt werden und irren nun als mitternächtliche Rachegeister durch den dunklen Wald. Es sind die Willis, zu ihnen wird bald auch Giselle gehören.  Am Abend des 17. September tanzt die Erste Solotänzerin Nina Poláková die Titelrolle im romantischen Ballett zur schmeichelnden Musik von Adolph Adam. Von der exzellenten Partnerin profitiert auch der Gast aus St. Petersburg, Kimin Kim. Gäste werden in Wien ohnehin immer bejubelt, doch Kims hohe Sprünge und Entrechats können schon zu Bravorufen hinreißen, doch sind die Damen, das Corps mit eingeschlsosen, die Stars.

Nina Poláková, Kimin Kim: Verliebter Tanz im 1. Akt. Giselle hat den Liebesschwüren des jungen Herzogs Albrecht geglaubt, nicht bemerkt, dass ihn lediglich die Frische des jungen Mädchens bezaubert und er genau weiß, wie man ein Opfer in die Falle lockt.  Albrecht ist längst einer anderen versprochen, der Standesunterschied muss gewahrt werden. Seit bald 200 Jahren begeistert das Ballett „Giselle“ nicht nur Ballettophile. Bis 20. Oktober 2018 ist die Choreografie von Elena Tschernischova (1993) noch zu sehen. Liudmila Konovalova, Olga Smirnova, Olga Esina und Maria Yakovleva werden der Reihe nach als tanzversessenes Bauernmädchen und als auf Rache verzichtende Willi das Publikum begeistern .

Nina Poláková hat seit ihrem Debüt im Herbst 2017 an ihrer Giselle-Darstellung intensiv und aufmerksam gearbeitet und kann jetzt ein fröhliches, vor Glück mutwillig umherhopsendes Mädchen zeigen. Als Willi ist sie immer noch selbstbewusst, aber milde und verzeihend, so schön und technisch perfekt, dass der frenetische Applaus zurecht ihr gehört. Vollendet der Ballon, das schwebende Stehen in der Luft, beim Grand Jeté und ihr Tanz auf der Spitze ein und denselben Beins quer über die Bühne, ein Schweben der anderen Art. Taktsicher unterstützt Dirigent Ermanno Florio. Giselle (Nina Poláková)  ist Albrecht (als Gast Kimin Kim) rettungslos verfallen.

Der junge Koreaner Kimin Kim, den Ballettchef Manuel Legris schon beim Japan-Gastspiel des Wiener Staatsballetts 2018 in seiner Choreografie von „Le Corsaire“, wo Kim die Titelrolle (Conrad) getanzt hat, der Compagnie vorgestellt hat, ist Solotänzer im Ballett des Mariinski Theaters in St. Petersburg. Eine rare Ehre, denn russische Balletttruppen halten die Türen für nicht an ihren Schulen ausgebildete Tänzerinnen und Tänzer eher verschlossen. Der Amerikaner David Hallberg, der 2011 vom American Ballet Theatre (ABT), wo er bereits erster Solotänzer war, nach Moskau ans Bolschoi Ballett engagiert worden ist, tanzte nur 5 Jahre, dann zwang ihn eine Verletzung zu einer langen Pause und schließlich kehrte in seine Heimat zurück.
Ein letzter Tanz für die Willi Giselle und den Schwindler Albrecht (Nina Poláková, Kimin Kim). Kim ist seit 2012 im Mariinsky Ballett und hat 2016 den renommierten Prix Benoîs de la Danse erhalten. Der Direktor des Mariinsky Balletts war Mitglied der Jury. Kim ist ein zarter Tänzer, nur wenig über 1,83 groß, dafür geschmeidig mit federnden Sprüngen und perfekten Entrechats (vielleicht sogar die berühmten Entrechats six, wenn die Beine in der Luft dreimal gekreuzt werden – doch wer kann beim Blick auf solch begeisternd rasante Beinarbeit schon zählen!), seine Kraft reicht aus für perfekte Hebefiguren.

Als Albrecht ist er ein hübscher, niedlicher, Herzog, der die, von Poláková entzückend naiv und verliebt getanzte, Giselle mit kindlicher Verliebtheit umwirbt. Für die Vitrine reicht das, für überzeugende Bühnenpräsenz noch nicht. Doch Kimin Kim ist erst knappe 25 Jahre alt. Alexandru Tcacenco als Hilaarion im Todestanz.

Als sein hilfreicher Freund kann Marcin Dempc durch lebhafe Bühnenpräsenz gefallen. Wenn er ihm den Mantel umwirft, weiß ich, dass er dem herzoglichen Jüngling, der gern zweigleisig gefahren wäre, ins Ohr flüstert: „Hau ab, bevor was passiert.“

Hilarion, der abgewiesene Freier, der Giselle nicht loslassen kann und Albrechts wahre Identität aufdeckt, haut nicht ab, sondern schluchzt auch noch an Giselles Waldgrab. Das muss er büßen. Die Willis kreisen ihn ein, er muss sich mit ihnen zu Tode tanzen. Alexandru Tcacenco ist ein kräftiger, hoch springender Hilarion, der dem Bürschchen Albrecht durchaus das Schwert reichen könnte, doch er ist ein Bauer und hat gar keins. heimlich spürt Giselle sehr wohl die noble Herkunft ihres windigen Bewerbers.

Gala Jovanovic tanzt als Myyrta Stolz und Trauer, Macht und  Einsamkeit. Giselle hat mit Elena Bottaro, Sveva Gargiulo, Anita Manolova, Fiona McGee Xi Qu und Rikako Shibamoto sechs überaus bezaubernde und leichtfüßig elegante Freundinnen. Sie alle sind im 2. Akt in der perfekten, präzisen, standfesten, makellosen, harmonischen (selber weiterdichten an der Lobeshymne bitte – das Corps de ballet, weiblich wie männlich ist einfach ein Gesamtstar) Reihe der Willis zu finden. Shibamoto und Bottaro wie bereits gewohnt als elfenhafte Begleiterinnen ihrer Königin Myrtha. Gala Jovanovic ist eine erfahrene Myrtha mit feinem Port de Bras und eisiger Miene. Drinnen aber toben die Gefühle, Jovanovic tanzt Einsamkeit und Rachegefühle, Kränkung (auch sie ist als düpiertes Mädchen gestorben), Gnadenlosigkeit und Machtgenuss. Im schönen Leib schlägt ein böses Herz.

„Giselle“, phantastisches Ballett in zwei Akten von Théophile Gautier Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Jean Coralli nach Heinrich Heine. Choreografie und Inszenierung Elena Tschernischova nach Jean Coralli, Jules Perrot, Maria Petipa. Musik: Adolph Adam. Dirigent Ermanno Florio. 17. September 2018, Wiener Staatsballett.
Nächste Vorstellung: 21. September 2018, mit Liudmila Konovalova, Robert Gabdullin, Eno Peçi, Kiyoka Hashimoto.
Fotos von Ashley Taylor, © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor.