Queyras & De Keersmaeker / Rosas: Bach Cellosuiten
Die sechs Cellosuiten von Johan Sebastian Bach sind Ausgangspunkt für die jüngste Choreografie von Anne Teresa De Keersmaeker. Die flämische Choreografin hat sich dabei mit dem kanadischen Meistercellisten Jean-Guhien Queyras zusammengetan, um Musik sichtbar zu machen. Bei der Ruhrtriennale 2017 uraufgeführt, hat sich das unschlagbare Trio Bach – Queyras – De Keersmaeker blitzartig an vorderste Stelle sämtlicher Hitlisten geschoben. Nach gut 40 Vorstellungen ist die Tournee nun in Wien gelandet. Für das ImPulsTanz Festival 2018 ist ausnahmsweise das Burgtheater geöffnet worden, und was sich sehen lassen will, hat zwei Stunden mehr oder weniger wach ausgeharrt, um danach pflichtschuldig den erwarteten Applaus zu spenden.
Der etwas sperrige Titel – „Mitten wir im Leben sind“–, zugleich das Motto der Choreografie, ist der Beginn eines gregorianischen Chorals, den Martin Luther aus dem Lateinischen übersetzt hat. „Media vita in morte sumus / Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ Passt in die Barockzeit, immer wieder daran erinnert zu werden, ist bei all dem sommerlichen Partytrubel recht heilsam. So sieht De Keersmaeker in ihrer Choreografie zu den 6 Cellosuiten die Beschreibung eines Lebenszyklus‘ mit einem Zusammenbruch in der fünften dramatischen Suite und der Wiederauferstehung in der fröhlichen sechsten. Sie wollte selbst mittanzen, in jeder Suite kurz erscheinen, kurz die Bühne beleben, Licht und Anordnung kontrollieren und wieder verschwinden. Doch ein Reitunfall hindert sie, in Wien teilzunehmen, ihre Assistentin Femke Gyselinck übernimmt den Part der Choreografin.
Die ersten vier Suiten sind einem Tänzer / einer Tänzerin zugeordnet, in der gleichen Struktur wird die jeweilige Individuaenlität sichtbar. Der phänomenale Michaël Pomero eröffnet mit dem ersten Präludium, Julien Monty, Boštjan Antončič und Marie Goudot folgen. In der sechsten, abschließenden Suite sind sie zu sechst, die fünf Tänzer*innen und Jean-Guhien Queyras, ein Tänzer mit dem Bogen, gemeinsam auf der Bühne.
Was nur wirklich hochmusikalischen Choreograf*innen möglich ist, macht De Keersmaeker mit leichter Hand. Sie gibt mit ihrem Bewegungskatalog – die sich öffnende Spirale, Betonung und Kippen der vertikalen und horizontalen Ebene, diesmal mit ausgedehnten Passagen im Liegen, Wiederholungen, Rückwärtssprünge und -schritte, schnelles Laufen rund um die Bühne – der Musik eine neue Dimension, neue Klarheit und Substanz. Das gelingt nicht immer, doch in den Glücksmomenten verschmelzen Musik und Tanz zu einer Einheit, die Mathematik hat ausgedient. Dennoch bleibt der Star des Abends Jean-Guhien Queyras. Sein Spiel ist so leicht und fließend, die Tänzer*innen umkreisen ihn, sind ganz nahe und dann wieder weit entfernt, beachten ihn gar nicht. Manchmal wirkt der Bewegungsablauf etwas eintönig. Dagegen geht De Keersmaeker mit manieristischen Unterbrechungen an. Tänzer*innen bewegen sich ohne Musik, stehen erstarrt als Skulpturen, liegen bewegungslos auf dem Boden.
Queyras muss den Bogen von den Saiten heben. Warten. Diese Unterbrechungen wirken als Stolpersteine, verdrängen die Musik. Doch der Tanz braucht sie.
In Arbeitskleidung, Jeans und blauem Hemd, sitzt Queyras anfangs mit dem Rücken zum Publikum, dreht sich von Suite zu Suite um einige Grade, hält mitunter Blickkontakt zu den Tänzern, lächelt, um am Ende frontal, aber weit entfernt im Hintergrund zu spielen. Der Bogen bewegt sich als Tänzer über die Saiten, Queyras spielt ohne Dramatik, ohne jegliche Prätention, einfach und schlicht, doch mit Ausdruck, im Spiel und in der Mimik. Wunderbar. Er weiß, und das dürfte ihn entlasten, dass er an diesem Tanzabend nicht im Mittelpunkt steht. Doch für mich …
Auch De Keersmaeker ist jegliches Pathos ferne, sie arbeitet analytisch, mathematisch, die Struktur ist ihr wichtiger als die Melodie. Gerade die Suiten der Barockzeit laden den bewegten Körper auf die Bühne, besteht doch jede Suite (Folge) aus einer Aneinanderreihung von Tänzen. Die fröhliche Gaillard hat ebenso ihren Platz wie die schnelle Courrante, die volkstanzartige Bourrée oder die, in der Tradition der Interpretation der 5. Suite extrem langsam, als Lamento, gespielte Sarabande. De Keersmaeker legt ihre Choreografie eine ausgeklügelte Grundstruktur zugrunde, was manche Passagen etwas blutleer erscheinen lässt. Sie betont das Strukturelle ihrer Choreografie, mit verschiedenfarbigen Markierungsstreifen, die sie (also in Wien Femke Gyselinck mit Hilfe der Kollegin Marie Goudot oder einem Tänzer) mit akribischer Genauigkeit auf den Bühnenboden klebt. Ob diese Markierungsbänder danach beachtet werden, ist nicht festzustellen. Freude am Tanz auch nicht. Elegant und fließend, überaus ästhetisch schon, erhaben sogar, aber trocken und theoretisch. Erst in der letzten Suite, wenn alle auf der Bühne sind, sind die Bewegungen gelöst, anmutig auch, mit einem Hauch von Fröhlichkeit. Jetzt sind Musik und Tanz miteinander verschmolzen.
Man ist gewohnt, in De Keersmaekers Formation Rosas nur großartige, disziplinierte Tänzer und Tänzerinnen zu sehen. Das ist auch diesmal nicht anders. Boštjan Antončič, Marie Goudot, Femke Gyselinck, Julien Monty und Michaël Pomero tanzen seit zehn Jahren und länger bei Anne Teresa De Keersmaeker. Lob und Staunen haben sie verdient und mit dem Schlussapplaus auch erhalten. Doch den tieferen Eindruck hinterlässt Jean-Guihen Queyras mit seinem Cello. Sein Spiel macht glücklich.
Anne Teresa De Keersmaeker; Jean -Guihen Queyras / Rosas: „mitten wir im Leben sind / Bach 6 Cellosuiten“, Choreografie: Anne Teresa De Keersmaeker; Cello: Jean-Guihen Queyras. Von und mit: Boštjan Antončič, Marie Goudot, Femke Gyselinck, Julien Monty und Michaël Pomero. Uraufführung am 26. August 2017, Ruhrtriennale. Folgeaufführungen in Wien am 14. und 15. Juli 2018, Burgtheater im Rahmen des ImPulsTanz Festivals.