Der Nussknacker: Rollendebüt für Leonardo Basilio
Für viele Familien und auch Gäste gehört das Ballett „Der Nussknacker“ zu Weihnachten wie der Tannenbaum und die Geschenkpackerl. Ist doch dieses Ballett selbst eine Weihnachtsgeschichte. In der nach einer zweijährigen Pause wieder in Wien gezeigten Choreografie von Rudolf Nurejew ist der zwielichtige Onkel Drosselmeyer zugleich der Nussknacker, in dem ein schöner, liebenswürdiger Prinz steckt. Leonardo Basilio tanzt die Rolle in der 28. Aufführung zum ersten Mal und lässt sich auch weder durch die heiklen Schrittkombinationen noch durch schwierige Hebungen im Pas de deux irritieren. Locker erfreut er durch edle Haltung und tadellose Sprünge.
Die Geschichte vom Weihnachtsfest der Familie Stahlbaum mit ihren Kindern, dem schlimmen Fritz und der träumenden Marie (Nurejew nennt das Mädchen Clara ), und dem Besuch des geheimnisvollen Onkels Drosselmeyer (Droßelmeier) ist von E. T. A. Hoffmann erfunden. Der Patenonkel (in manchen Choreografien würde er auf die Me-too-Liste kommen), der zugleich Puppenspieler und Zauberer ist, hat Marie / in Wien: Clara , einen Nussknacker mitgebracht, zu dem er auch eine Geschichte erzählt, die sie parallel in ihrer Fantasie nacherlebt und, weil sie weiß, dass der eigentlich hässliche Nussknacker in Wahrheit ein verzauberter junger Mann von „nicht unangenehmer Gestalt“ ist, liebt sie diesen, was wesentlich zu seiner Entzauberung beiträgt.
Als weniger psychologisch komplexe Geschichte hat dann Alexandre Dumas d. Ä. Hoffmanns Kindermärchen für Erwachsene nacherzählt. Darauf beruhen nahezu sämtliche der vielen Choreografien und choreografischen Versuche des, 1892 von Lew Iwanow / Marius Petipa zur wundersamen Musik von Peter Tschaikowski auf die Bühne des Marriinski-Theaters gezaubert Ballettklassikers. Im Archiv der Wiener Staatsoper finde ich, dass „Der Nussknacker“ 1973 zum ersten Mal die ganze Familie ins Opernhaus gezogen hat. Die Inszenierung von Juri Grigorowitsch, wunderbar märchenhaft, ganz traditionell mit Glitzer, Glanz und Christbaum, hielt sich mit 125 Aufführungen bis Anfang 1997.
Renato Zanella und Gyula Harangozó wollten dann ihre eigene Choreografie auf die Bühne bringen und zugleich den Ballettklassiker modernisieren. Mehrere Umdrehungen in diversen Gräbern und lediglich pflichtgemäßer Applaus an den Abenden, zeigten dass der Nussknacker zwar eine hölzerne Puppe ist, mit der man jedoch keinesfalls alles machen darf. Manuel Legris holte dann Rudolf Nurejews Choreografie auf die Wiener Ballettbühne. Inzwischen kennen Ballettfreundinnen die engen Verbindungen Legris' zu Nurejew und seine Verehrung für den Star. Klar, dass er auch dieses Nurejew-Werk – 1967 für das Königlich Schwedische Ballett geschaffen und 1985 mit der Ballettcompagnie der Pariser Oper aufgefrischt – ins Repertoire aufgenommen hat.
Präzision und Sicherheit, die Legris mit dem Wiener Staatsballett zuletzt 2015 erarbeitet hat, sind jedoch wieder ziemlich verloren gegangen, zumal nicht nur Halbsolist Basilio seinen Part zum ersten Mal tanzt, sondern auch ein großer Teil des Corps noch nie als feiernde Gäste, silberglänzende Schneeflocken oder goldschimmernde Walzertänzer*innen auf der Märchenbühne gestanden ist. Da wird sich im Laufe der nächsten drei Vorstellungen so manches sortieren, glätten und entzappeln.
Perfekt trainiert von der ehemaligen Staatsoperntänzerin Raffaella Sant’Anna, die seit dem Vorjahr an der Ballettakademie arbeitet, sind die Kinder. Überaus lebhaft, keck und selbstsicher die Mädchen; ungestüm und rauflustig die Buben, tragen sie den gesamten ersten Akt. In geordneter Formation auch die Kavallerie unter der Führung des prächtig herausgeputzten „kleinen Nussknackers“ auf seinem Schimmel (Scott McKenzie debütiert auch als Schlittschuhläufer). Die Infanterie schlägt sich tapfer, schließlich wird der riesige rote Mäusekönig (im Kostüm von Nicholas Georgiadis, † 2001, der auch für die Bühnenausstattung verantwortlich zeichnet) vom Nussknacker und seinem Heer besiegt, und das ist doch die Hauptsache an diesem Abend, der wie erwartet, glitzert und funkelt, an dem der Nussknacker-Erfahrene Paul Connnelly mit Tempo Tschaikoswkis Melodienreigen dirigiert.
Eine neue Soloschneeflocke tanzt im Duett mit Alice Firenze: Nikisha Fogo: Wie gewohnt beide höchst angenehm anzusehen, schwebend, ohne Fehl und Tadel. Dumitru Taran hat für die „Pastorale“ (quasi das französische Element zum Finale der vorgeführten Nationaltänze) je eine junge heuer erst gebackene Halbsolistin an den Arm bekommen: Elena Bottaro tanzt die Pastorale nicht zum ersten Mal (doch demnächst, am 27.12. 2017, in der Volksoper ihr Debüt als Juliette in Davide Bombanas Ballett „Roméo et Juliette“ die Titelrolle); Adele Fiocchi schon. Im russischen Tanz ist Franziska Wallner-Hollinek ihre Wodka geschwängerte Rolle besonders überschäumend gelungen. Andrey Teterin gab ihr jedoch, obwohl zum ersten Mal im Trepak tanzend, sicheren Halt.
Wenn da weiter oben die Rede von unsortiert und zappelnd die Rede war, so möchte ich betonen, dass das von den Herren weniger zu melden ist. We ein Mann tanzten sie (samt den Neulingen McKenzie, Nicola Barbarossa, Andrés Garcia-Torres, Arne Vandervelde) den Soloteil im Walzer und haben schon als Kavalleristen, nochmal sei’s erwähnt, beste Figur auf den galoppierenden Rappen gemacht.
Anita Manolova ist eine bezaubernde Luisa, Schwester der Clara und entzückend tanzende Puppe; Richard Szabó ist jedoch aus der Rolle eines pubertierenden Buben, der seine Schwestern nur sekkieren kann, längst herausgewachsen. Was er als spanischer Tänzer mit Manolova so tadellos zeigt, Haltung, braucht Fritz nicht zu haben, der ist ein quirliger, unruhiger Teenager, nicht mehr Kind, aber noch lange nicht erwachsen. Legris tut Sazbó mit der Rolle nichts Gutes. Einmal von der Tradition, das Geschwisterpaar auch im 2. Akt im „spanischen Tanz“ als Solopaar auftreten zu lassen, abweichen? Das muss doch möglich sein, Fritz muss kein Spanier werden.
Ich drücke mich vor der Würdigung der eigentlichen Hauptrolle an diesem höchst erfreulichen und in der mehr als ausverkauften Staatsoper in festlicher Stimmung begangenen Abend, weil mir – man staune – die Worte fehlen.
Natascha Mair ist eine hinreißende Clara , ein schon im Wachen träumendes Mädchen, lieblich wirkt sie, wenn sie dem Onkel zeigt, wie sie tanzen kann. Mit rasantem Schwung, bestechend elegant, gelingt ihr (und Basilio) die Hebefigur des „poisson“, des aus dem Wasser springenden Fisches. Bezaubern ist sie, wenn sie mit flinken Füßen die Tarantella tanzt. Eine blutjunge Tänzerin mit der Sicherheit einer Habituée: Perfektion und Sicherheit! Da muss sich Debütant Basilio schon anstrengen, um neben der federleichten, technisch vorbildichen Solotänzerin bestehen zu können. Er darf im finalen Grand Pas seine kräftigen Sprünge zeigen und eine schöne Manege vorführen. Als Drosselmeyer hinkt er als undurchschaubauer Gast inmitten der Festgesellschaft umher, bringt die Kinder zum Staunen und Fürchten, und lässt am Ende sein aus dem Traum erwachtes Patenkind, mit dem wieder hölzernen in die Montur eines britischen Bobbys gekleideten Nussknacker im Arm, allein in den Schnee starren. Nur sie weiß, dass in ihrer Puppe ein schöner Prinz schlummert.
Genug geschwärmt. Das begeisterte Publikum wusste die Leistungen zu würdigen, spendete heftigen Applaus, eilte aber dann schnell zu den Mänteln, zu Hause muss der private Weihnachtsabend vorbereitet werden. So soll es sein. Dieses Jahr und immerdar.
Rudolf Nurejew: „Der Nussknacker“, Musik: Peter I. Tschaikowski; Bühne und Kostüme: Nicholas Georgiadis, Einstudierung: Manuel Legris. In den Hauptrollen: Natascha Mair, Clara; Leonardo Basilio, Drosselmeyer und Prinz. Dirigent: Paul Connelly. Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Weitere Vorstellungen: 28.12. 2017; 6. und 9. Jänner (2 mal) 2018.
Am 24. Dezember 2017 ist auf 3sat um 20.15 die Aufzeichnung von der Nussknacker-Premiere 2012 in der Wiener Staatsoper zu sehen. Es tanzen Liudmila Konovalova und Vladimir Shishov. Dirigent: Paul Connelly.