John Neumeier: „Le Pavillon d’Armide“ / „Le Sacre“
Wo anfangen, wo enden, um diesen wunderbaren Neumeier-Abend mit „Les Pavillon d’Armide“ und „Le Sacre“ zu beschreiben. Mit den großartigen, ausdrucksstarken Solist_innen (Roman Lazik, Mihail Sosnovschi, Nina Poláková oder Rebecca Horner), oder mit John Neumeier selbst, der aus dem staubbedeckten Ballet d’Action zur Musik Nikolai Tscherepnins über die hocherotische Geschichte der zauberhaften Armida deren Porträt lebendig wird und einen Jüngling verführt, ein bestrickendes Ballett zwischen Traum und Wirklichkeit geschaffen hat? Oder mit dem Dirigenten, Michael Boder, der das Staatsopernorchester zu Höchstleistungen angetrieben hat, im „Pavillon“, ganz dem Diktat der Tänzer_innen gehorchend und in „Le Sacre“ den Tänzer_innen sein eigenes Tempo aufzwingend? Zusammengefasst: Dieser Premierenabend war ein Erlebnis, an dessen fulminanten Finale (Horner) ich, verzaubert und erschöpft, in den frenetischen Jubel des Publikums eingestimmt habe.
Wie weiter jetzt? Festgehalten muss werden, dass getanzt wird, vor allem im „Pavillon“. In Neumeiers unnachahmlicher Tanzsprache und im teilweise pantomimischen Vokabular Michel Fokines, der die erste Aufführung des Balletts 1907 in St. Petersburg choreografiert hat. Neumeier hat jedoch nicht rekonstruiert, sondern eine völlig neue Kreation (Uraufführung 2009, Wiederaufnahme mit dem Hamburg Ballett 2012) geschaffen. Das magische Licht, das Bühnenbild und die Kostüme (nach Alexandre Benois), alles Neumeier selbst. Die Musik ist original, atmosphärisch, farbenfroh, einschmeichelnd auch. Nikolai Tscherepnin muss man nicht unbedingt kennen. Sein Lehrer war Rimskij-Korsakow, er aber hat sich auch an Tschaikowsky oder Wagner orientiert und ist sicher auch vom nur wenig älteren Alexander Glasunow, dessen Ballett „Raymonda“ im aktuellen Repertoire des Wiener Staatsballetts ist, beeinflusst.
Doch Neumeiers „Pavillon“ beginnt in aller Stille, einer Art Prolog, in dem Paare in den 1920er Jahren langsam und oft im Profil über die Bühne schlendern. Alle scheinen am Ende zu sein, doch einem Mann geht es besonders schlecht er ist am Zusammenbrechen. Die Frau schleppt ihn weiter. Ins Krankenhaus von Kreuzlingen, wo sein Bett schon bereitsteht: Für den Mann / Waslaw Nijinsky , den seine Frau Romola in die Klinik begleitet. Er wehrt sich nicht. Sichtlich nervös wartet der Arzt (Roman Lazik, der auch Nijinskys Mentor und Liebhaber, den Entrepreneur Sergej Diaghilew tanzen wird) auf den prominenten Patienten. Um ihn zu beruhigen schaltet er das Grammophon ein (Neumeier hat tatsächlich eine alte Schallplatte mit Tscherepnins Ballettmusik gefunden), die Malerei des Schöpfers des ursprünglichen Bühnenbilds, Alexandre Benois, das an der Wand des Krankenzimmers hängt, dehnt sich aus, der Mann / Nijinksy beginnt zu träumen, durch das Fenster springen die ersten Erinnerungen, Schüler der St. Petersburger Akademie.
In der danach wirbelnden Szenefolge fügen sich Traum und Vergangenheit nahtlos in den aktuellen Kampf des Mannes mit seinen eigenen Gespenstern. In Zitaten tauchen Nijinksys Rollen auf, Petruschka, der Danse siamoise (virtuos wie stets, Davide Dato) und natürlich der Faun. Im wippenden Tutu umtanzt wird er von Tamara Karsavina (Maria Yakovleva) und Alexandra Baldina (Nina Tonoli), die mit ihm im berühmten Pas de trois aufgetreten sind. Romola, von Poláková elegant getanzt und so verzweifelt gespielt, dass ich ihr Mut machen möchte, wandelt sich zur verführerischen Armida. Der Verführung der großen Vergangenheit erliegt der leidende Patient nur kurz, immer wieder kehrt er in die Gegenwart zurück. Die Choreografie fängt mich ein, bald kann ich zwischen Realität und Fantasie, zwischen dem Geschehen auf der Bühne, dem Theaterstück also, und der Realität draußen nicht mehr unterscheiden.
Hauptdarsteller Mihail Sosnovschi zeigt in der Gestaltung der Rolle phänomenalen Tanz und ebensolche Darstellungskunst. Als hätte Nijinsky von ihm Besitz ergriffen, würde er sein eigen Freud und Leid tanzen. Wie gut, meinte Sosnovschi nach der Vorstellung, dass ich nicht mit dem Alexandre Riabko, der die Rolle bei der Wiederaufnahme in Hamburg kreiert hat, studiert habe. "So konnte ich meine eigene Interpretation zeigen.“ Und die die ist umwerfend, aufwühlend, hinreißend. Mihail Sosnovschi hat mit der Darstellung des träumenden und leidenden Nijinksy, eitel, selbstverliebt und tanzversessen, einen neuen Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Allein sein Mienenspiel drückt den Charme und auch die Zerrissenheit dieses „Gottes des Tanzes“ aus. Und dann die Bewegungen, weich und geöst, als Tänzer, eckig und zerfahren, als Person Waslaw.
Wenn Sosnovschi der männliche Star des Abends war – wobei zu betonen ist, dass die anderen Darsteller_innen keineswegs verblassen neben ihm. Auch nicht Denys Cherevychko, der als junger, tanzender Nijinsky, im historischen Kostüm keine leichte Aufgabe hat. Er darf sich trösten, konnte er doch in Neumeiers „Vaslaw“ schon zeigen, wie gut er mit Neumeiers Tanzsprache umgehen kann – also wenn der männliche Star Sosnovschi heißt, dann heißt der weibliche Stern, und ebenso wenig überraschend, Rebecca Horner, die in Neumeiers „Le Sacre“ nach der Pause tanzt Geträumt wird da wenig, vielleicht davor, in der langen Stille, wenn die noch unsichtbaren Menschen nachdenken und beschließen, dass sich etwas ändern muss in ihrer Welt. Stille ist schwer zu ertragen, im Publikum wird gehustet, was die Lunge hergibt.
Fast unhörbar lässt das Fagott die ersten Takte hören (übrigens als Klammer auch am Ende des „Pavillon“ gespielt) und schon bricht der Sturm los. Die vereinzelt auftretenden Männer und Frauen ballen sich zur Gruppe, Hände werden gereckt, mit gespreizten Fingern, geballten Fäusten. Doch das gemeinsam Ziel ist nicht erkennbar, kleine Grüppchen ziehen in unterschiedliche Richtungen, eine Leiche liegt im Vordergrund. Neumeier fügt eine Generalpause ein, Dunkelheit (auch im Orchestergraben), Stille. Die Musik bleibt im Raum sehen und gleich braust sie wieder los.
Ein Paar (Ionna Avraam / Francesco Costa) geht seine eigenen (expressiv getanzten, mit Sonderapplaus bedachten) Wege. Zwei Männer (Eno Peçi / Costa) rangeln miteinander. Die Gruppe versucht sich zu einigen. Doch am Ende ist nichts gewonnen, wie Tiere kriechen sie vom Schauplatz, eine Frau löst sich aus der Gruppe, verstört, ganz auf sich selbst gestellt. Rebecca Horner tanzt dieses finale Solo, fulminant, explosiv. Ein magischer Moment. Am Ende gibt die Einzelne auf, fällt erschöpft und verzweifelt (schon wieder eine Verzweifelte!) zu Boden. Jeder ist allein. Noch im Premierentrubel wurde Horner zur Solotänzerin ernannt.
Ein dritter Stern des Abends, keineswegs der am wenigsten wichtige, ist ebenfalls zu ehren: Dirigent Michael Boder und das Staatsopernorchester. Lyrisch zart im ersten Teil, dynamisch, jede der Stimmungen der polyrhythmischen Partitur genießend im zweiten. Dieser Musik wird man niemals überdrüssig, alterslos wird sie ewig modern sein.
Boder gelingt es perfekt, den Kontakt zur Bühne zu halten. Tanz und Musik verschmelzen miteinander. Die Gabe John Neumeiers, aus jeder Tänzerin, jedem Tänzer, das herauszuholen, was ganz Innen drinnen steckt, ist beispiellos. Trotz genau notierter Choreografie lässt er jeder / jedem Einzelnen genügend emotionale Freiheit, um eine Rolle zu gestalten. Dadurch entstehen große Abende, wie dieser, dem Genie Nijinksy gewidmet.
John Neumeier: „Le Pavillon d’Armide“ / “Le Sacre”, mit Mihail Sosnovschi, Rebecca Horner und dem Wiener Staatsballett. Premiere am 19. Februar 2017.
Nächste Vorstellungen: 20., Februar, 10., 13., 16. März 2017. Und hoffentlich wieder in der kommenden Saison.