Giselle, getäuscht und verlassen, heute wie damals
Akram Khan, weltberühmter Tänzer und Choreograf, hat mit dem English National Ballet das romantische Ballett „Giselle“ ins 21. Jahrhundert versetzt. Die Corona-Maßnahmen sind beendet, Tourneen und Gastspiele sind wieder möglich, das englische Ensemble zeigt im Festspielhaus Sankt Pölten das immer noch romantische Drama von Liebe und Verrat, Tarnung und Täuschung. Giselle lebt heute, ist kein naives Bauernmädchen mehr, sondern eine kämpferische Frau, leider arbeitslos, aber verliebt.
Der Saal wird dunkel, bedrohliche Trommelschläge ertönen, der Vorhang öffnet sich und gibt eine hohe Mauer frei, vor der der eine Menschenmenge mit dem Rücken zum Publikum steht, und versucht, sie durchbrechen. Die Menschen scheitern, doch Choreograf Akram Khan hat mit der aktuellen Version des in Paris uraufgeführten Balletts „Giselle“ das Publikum in St. Pölten vom ersten Augenblick an in Bann geschlagen.
Die Handlung folgt der Erzählung des Librettos von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Théophile Gautier für die später in Russland von Marius Petipa veränderte Choreografie von Jules Perrot. 1841 feierte das Pariser Publikum die Uraufführung. „Giselle“, getanzt zur Musik von Adolphe Adam, ist eines der wenigen romantischen Ballette, das sich bis heute auf der Ballettbühne gehalten hat. Alle großen Compagnien haben „Giselle“ im Repertoire. Auch das Wiener Staatsballett. Gründe dafür gibt es viele. Vor allem ist das feenhafte Ballet blanc, das im zweiten Akt das Publikum entzückt hat. Es sind die Willis, die in luftigen weißen Tutus im nächtlichen Wald spuken. Sie sinnen auf Rache, jagen die Männer und tanzen sie zu Tode. Eine davon ist das Bauernmädchen Giselle, die der adelige Albrecht umgarnt und dann sitzen lässt. Er ist bereits standesgemäß verlobt mit Bathilde. Aufgedeckt wird Albrechts falsches Spiel vom eifersüchtigen Wildhüter Hilarion. Auch er ist in Giselle verliebt, sie weist seine Avancen zurück, ihr Herz gehört dem falschen Albrecht. Der Hauptgrund für den Erfolg des Balletts ist die Tatsache, dass im 1. Akt reale Menschen auf der Bühne sind und keine in Tiere verwandelten oder eingeschläferte Märchenwesen. Frauen spüren: „Giselle ist eine von uns.“ Die Männer erfreuen sich weiterhin an den in Spitzenschuhen schwebenden ätherischen Wesen, deren Tüllröcke die Knöchel freigeben. Nach dem steifen höfischen Ballett, das vornehmlich von Männern getanzt worden ist, gehört der Tanz den Frauen. Aber auch der Tanz selbst spielt eine wichtige Rolle. Ob Giselle im ersten Akt Albrecht mit in die tanzende Menge zieht, ob sie, wie in vielen Inszenierungen, tanzend stirbt oder die Willis von der Tanzwut gepackt werden und Hilarion solange tanzen lassen, bis sie seine Leiche hinweg schleppen können, Tanzen bringt Freude oder Leid, ist Leben oder Tod. In christlichen Kirchen war das „schändliche Treiben“ lange Zeit verboten.Akram Khan behält die Struktur der Liebesgeschichte bei, versetzt sie jedoch in das ausgehende industrielle Zeitalter. Giselle und das gesamte Volk, das verzweifelt an der Mauer kratzt, sind der eine Teil, der größere, wie man weiß, der heutigen Welt, die Arbeitslosen, die Migrantinnen, die Ohnmächtigen. Hinter der Mauer feiern die Mächtigen, die sich alles erlauben dürfen.
Während sich die Masse als unaufhörlich brandende Wellen bedrohlich über die Bühne wälzt, lösen sich drei Personen heraus. Giselle, eine ehemalige Fabrikarbeiterin, die wie alle vor der Mauer ihre Arbeit verloren hat, doch nicht ihren Stolz. Zu ihr gesellt sich der schmierige Albrecht, einer von der anderen Seite der Mauer, der sich an die junge Frau herangemacht hat, und der Zornbinkel Hilarion, ebenfalls in Giselle verliebt, doch wird sein Liebesangebot nicht erwidert. Das Drama nimmt seinen Lauf, wenn die Fabriksirenen (eine Erinnerung an die Jagdhörner in Adams Originalkomposition) die Ankunft der Gesellschaft von der anderen Seite der Mauer ankündigen. Höfisch ausstaffiert kommen die Oligarchen aus ihrem Ghetto, das Volk muss für sie tanzen. Nur Giselle neigt nicht den Kopf, beugt nicht die Knie vor der Fabrikantentochter in Samt und Seide. Bald wird sie erfahren, dass die noble Frau die offizielle Braut „ihres“ Albrechts ist. Der erweist sich als feiger Wicht, lässt mit der Angebeteten auch sein Kind, das bereits in Giselle wächst, im Stich. Giselle muss sterben, ob die feine Gesellschaft rund um den zukünftigen Schwiegervater Albrechts sie beschützen will oder tötet ist nicht klar. Ein enger Kreis bildet sich um die Getäuschte, und wenn der Vorhang am Ende des 1. Aktes fällt, ist Giselle tot.Akram Khan kann ein großes Ensemble auf der Bühne bewegen und besticht auch durch beeindruckende Bilder. Die perfekte Mischung von zeitgenössischem Tanz, Erinnerungen an das klassische Ballett und indischem Kathak, unterstützt vom Sounddesign Vincenzo Lamagna sind ebenfalls ein bemerkenswertes Plus in dieser Neuinterpretation des Klassikers. Wie der Choreograf, der sich vieler Gesten und Motive aus dem Original bedient, verwendet auch der Komponist Melodien aus Adams Ballettmusik. Der den ersten Akt beherrschende Kathak ist ein aufwühlender Tanz, es wird gestampft und getrommelt, Arme recken sich empor, Hände flattern, Finger tanzen, die rhythmische Musik verkündet Aufruhr. Sowohl das exakt sich bewegende Corps wie die Solisten bezeugen die Qualität des English National Ballet. Für das Gastspiel in Sankt Pölten sind die Spitzen der Company aufgeboten: Bezaubernd zierlich, stolz und unbeugsam: Erina Takahashi, Lead Principal; die beiden Ersten Solisten, James Streeter als betrügerischer Albrecht und Ken Saruhashi, der mit hohen Sprüngen und rasanten Drehungen den eifersüchtige Hilarion verkörpert. Dass der Plot so verständlich und packend ist, muss wohl auch der Dramaturgin Ruth Little verdankt werden. Dass Khans „Giselle“ nicht im von ihm so gern dick aufgetragenen Pathos und in billigen Klischees erstickt, lieber den Tanz (das Tanzen) in den Vordergrund rückt und eine stringente Geschichte erzählt, macht den Abend zu einem eindrucksvollen Erlebnis. Khan verzichtet diesmal auf Belehrungen und Kommentare zu den täglichen Krisenmeldungen, erzählt das Drama pur, zeigt einleuchtende Bilder, die es dem Publikum leicht machen, seine eigenen Gedanken zu bilden und den Zustand der Welt zu reflektieren. Im zweiten Akt verlässt Khan, dem Original folgend, die Realität und begibt sich in die Welt der Geister, der umherirrenden rachedurstigen Seelen der verlassenen jungen Frauen. In der Fabriksruine erweckt die Zauberin Myrtha die tote Giselle zu scheinbarem Leben. Die untoten Mädchen, nach einer Sage die Willis, sind mit spitzen Stöcken bewaffnet, mit denen sie kampfbereit in den Boden klopfen oder sie als tödliche Waffe einsetzen. Kein Mondenschein erleuchtet das alte Gemäuer, keine lieblich schwebenden Feen tanzen hier. Die Spitzenschuhe dienen eher dazu, den Boden zu bearbeiten, die Röcke sind ausgefranst und schmutzig. Diese Willis sind eher Hexen, die ihren Sabbat feiern, indem sie Hilarion in einem Käfig aus Stäben gefangen halten und zu Tode tanzen. Albrecht muss nicht sterben, Giselle ist weniger eine Verzeihende als eine, die sich für den Verführer kaum noch interessiert. Er lädt sie zum innigen Pas de deux mit frappierenden Hebungen, sie entschlüpft ihm immer wieder. Die Geisterstunde neigt sich dem Ende zu, die armen Seelen müssen verschwinden. Myrtha richtet den Speer gegen Albrecht, will ihm in die Brust stoßen. Doch Giselle entwindet ihn der Chefin, richtet ihn gegen sich selbst. Albrecht kann nicht mehr über die Mauer, bleibt diesseits und jenseits ein Ausgestoßener. Er hat seine Chance vergeben. Großes Kino mit passender Musik, ein Finale voll Herz und Schmerz. Eine Aufführung, die auf allen Linien, tänzerisch und erzählend, überzeugt.
English National Ballet. Akram Khan: „Giselle“, Festspielhaus Sankt Pölten, 24., 25.2. 2023.
Choreografie & Regie: Akram Khan. Komposition & Sounddesign: Vincenzo Lamagna nach der Originalkomposition von Adolphe Adam. Orchestrierung von Gavin Sutherland. Visual Design & Kostüme: Tim Yip. Licht: Mark Henderson. Dramaturgie: Ruth Little. Tanz: English National Ballet. Uraufführung: 27.9. 2016, Palace Theatre Manchester.
Die Fotos stammen von einer früheren Aufführung, die abgebildete Besetzung ist nicht immer die der Aufführung im Festspielhaus Sankt Pölten. © Laurent Liotardo / English National Ballet.