Eine Ode an das Ballett“ nannte William Forsythe seine 1984 für das Frankfurt Ballett geschaffene abendfüllende Choreografie „Artifact“. 20 Jahre danach hat er aus dem 2. Teil das etwa 40-minütige Ballett „Artifact Suite“ geschaffen. Angeleitet und trainiert von Forsythes langjähriger Ballettmeisterin in Frankfurt, Kathryn Bennets, hat das Wiener Staatsballett mit „Artifact Suite“ an acht Abenden gezeigt, welch hervorragende Compagnie Manuel Legris geschaffen hat.
Um dem gesamten in feiner Dramaturgie zusammengestellten Abend, schlicht „Forsythe | van Manen | Kylian“ betitelt, die ihm zustehende Ehre zu erweisen: Auch van Manens luftige Pas de deux zu dreien von Eric Saties Klavierstücken „Gnosiennes“ und das sehr komische und von den drei Männern mit Vergnügen getanzte „Solo“ van Manens sowie im dritten Teil die ästhetische, hochemotionale Choreografie von Jiři Kylián zu Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“, sind jedes Mal von Neuem ein Erlebnis. Van Manens Gustostück „Trois Gnosiennes“ hilft das Gehirn zu entlüften, das Chaos zu klären, das durch Forsythes Spiel mit den Sehgewohnheiten und den Wirbel von Beinen und Armen, der nahezu 40 Tänzer*innen, die wohl alle das Gleiche, doch nicht zur gleichen Zeit, machen, nämlich das klassische Ballett durch Dekonstruktion und Rekonstruktion, Überdehnung und Streckung der Gliedmaßen ins 21. Jahrhundert zu heben, im Kopf entstanden ist. Kylian erhebt die Herzen und erzählt kleine Beziehungsgeschichten. Der Gott allerdings hat diese Gemeinschaft von acht Paaren in einem sakralen Raum längst verlassen. Während der Chor noch sein Lob singt („Laudate, Laudate!“), versickert das Licht, die Paare wandern still ins Dunkel. Sehr traurig.
Melancholie kommt bei Forsythe nicht auf, eher Staunen, Verwirrung, Unglauben, Unentschiedenheit, was man sieht oder nicht wirklich sieht, und natürlich unendliches Entzücken, denn, auch wenn, oder gerade weil, die Suite eine komprimierte Fassung von „Artifact“ ist, verdient sie ein Meistwerk genannt zu werden. In der Einstudierung von Kathryn Bennets bringt das Staatsballett dieses Meisterwerk zum Leuchten.
Nahezu 40 Tänzer*innen, angeleitet von einer Tanzmeisterin, kontrapunktiert von zwei Solopaaren, ordnen sich dem barocken Kanon der Musik J. S. Bachs (Chaconne aus der d-Moll Partita für Violine solo, meisterlich interpretiert von Nathan Milstein) unter und führen die Regeln des klassischen Balletts ad absurdum. Forsyth geht es auch um Beziehungen, nicht um die von Menschen zueinander, sondern die der Körperteile, Beine, Arme, Kopf, Hüften, Schultern, zueinander, das immer neue Verschieben dieser Beziehungen ist wohl für die Tänzer*innen ebenso anstrengend wie für die Zuschauer*innen. Beziehungen stellt der Choreograf auch rein mathematisch her: Punkt zu Line, Kreis zu Quadrat, Diagonale zur Horizontale. Abstrakt möchte ich dieses Ballett keinesfalls nennen, nicht narrativ, klar, plotlos, auch wenn vom Ballett erzählt wird, ist „Artifact Suite“ dennoch sehr konkret.
Konkret wie die Mathematik und konkret wie die lebendigen Körper auf der Bühne. Meint man manchmal, computergesteuerte Maschinen zu sehen, so lehren die acht Vorstellungen (die letzten drei in dieser Saison waren sehr knapp hintereinander zu sehen), dass hier Menschen am Werk sind, Individuen, die trotz perfekter Einstudierung ihre Eigenheiten behalten und sichtbar machen. Der Gedanke an ferngesteuerte Maschinen entsteht lediglich durch die ungeheure Präzision des Ensembles.
In den Solos gibt Forsythe den Frauen (Die Premierenbesetzung – Nikisha Fogo / Jakob Feyferlik; Nina Poláková / Roman Lazik; Oxana Kyanenko als „Other Woman“ – hat auch die letzte Vorstellung getanzt) den extremeren Part, doch für das Corps gilt Gleichbehandlung. Im zweiten, von einer Improvisation der Pianistin Eva Crossman-Hecht über Bachs Chaconne angetriebenen Teil, sind Frauen und Männer getrennt auf der Bühne, getrennt auch durch den ihnen auferlegten Bewegungsablauf. Unterbrochen wird möglicher Genussschlaf, ein sich Hineinwiegen in das Kreisen der Hüfte und Schwingen der Arme der Tänzerinnen nicht durch den herunterknallenden schwarzen Vorhang, sondern durch Stillstand, stumme Stelen warten in der Stille, Reste des Kunstwerks Ballett.
Auch daran muss sich das Publikum erst gewöhnen, versucht, das Ende herbei zu klatschen. Doch es obliegt der Ballettmeisterin („Other Woman“ Kyanenko hat von Mal zu Mal an Intensität gewonnen), alle zum grandiosen Finale zu versammeln.
Der Abend mit „Artifact Suite“ samt „Trois Gnosiennes“, „Solo“ und „Psalmensymphonie“ gehört für mich in seiner Schönheit, dem Erlebnisreichtum und dem Einsatz der Tänzer*innen zum Besten, was mir das Repertoire des Wiener Staatsballetts zu bieten hat. Da gibt es einiges, was ich gerne gegen eine Wiederholung tauschen würde. Auch nach sieben genossenen Vorstellungen habe ich nicht genug.