Anne Juren: „41“, Tanzquartier
Mit ihrer aktuellen Performance „41" hat die seit 2003 in Wien lebende französische Choreografin, Tänzerin und Feldenkrais-Praktikerin Anne Juren eine hoch konzentrierte Arbeit geschaffen, die ihre seit Längerem laufende künstlerische Forschungsreihe Private Anatomy Lesson szenisch neu bündelt. Im Tanzquartier Wien wurde die aktuelle Arbeit im Dezember zweimal gezeigt.
Hatte sich Juren unter anderem in diesem Sommer im Rahmen von ImPulsTanz an mehreren jeweils rund 50-minütigen Lektionen der Zunge, dem Körper, den Sexualorganen und dem Mund gewidmet, so stellt sie nun in „41" überraschungsreiche neue Konstellationen von Sehnsüchten zusammen, in der Symmetrie, Zunge, Auge und Haut zu den Forschungsmomenten ihrer hochpoetischen und lustvollen, erfahrungsbasierten wie imaginären Reise in das „Ich“ und „Du“ und „Wir“ wird.
Die Performance beginnt mit einer Untersuchung des eigenen Körpers durch ein „performing model“ (Linda Samaraweerová) auf einem im Zentrum des Zuschauerraumes platzierten „Forschungstisch“, der vorerst (und noch vor dem eigenen Körper) selbst zum Objekt der Erforschung seiner Ecken und Kanten, Bruchlinien und „Weichteile“ wird. Die Performerin untersucht in der Folge ihren Körper, dessen Flächen, Falten, Asymmetrien, in dem sie diese über weite Strecken des Abends selbst mit Gipstüchern „markiert“. Die so entstehenden weißen Teilabdrücke des eigenen Leibes nimmt Samaraweerová nach einigen Minuten ab und legt sie auf dem schwarzen Arbeitstisch beiseite. Ein kleiner Berg an Relikten des Eigenen entsteht, der zugleich Fremdkörper und Erinnerungsort ist. Hier ein Stück Bein, hier ein Teil des Armes, Oberschenkel, Hüfte, Schulter.
Während Samaraweerová ihre Untersuchungen fortsetzt, hört man Jurens Stimme vorerst über Band. Sie erzählt von der „Sehnsucht nach Symmetrie“, von körperlichen Empfindungen wie Schmerz und Gleichzeitigkeit, von Blockaden und dem Wissen um die Territorien des eigenen Leibes, die nicht immer so gestaltet waren, wie sie es mit „41“ sind, die sich verändert haben, als Erinnerungen im Körpergedächtnis verweilen wie die Gipsabdrücke jenes Momentzustandes, dem sich Samaraweerová zeitgleich auf dem abendlichen Seziertisch des Verlangens hingibt.
Wenn Juren dann selbst die Bühne betritt und in den folgenden 60 Minuten ihre „Anatomiestunde“ zu Zunge, Auge und Haut fortsetzt, wird ihr Körper immer wieder zugleich ausführendes Subjekt wie zu erforschendes Subjekt-Objekt dieser hoch persönlichen und dabei stets lustvollen Untersuchungsreihe. Wenn man noch nicht 45 ist und älter als 39, mit 41 Jahren zum Beispiel, dann ist, so Juren in einem der von ihr verfassten „Textlandschaften“ des Abends, der Körper ein Ort, an dem sich ein poetisches Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart festmachen lässt. Dinge, die sich in 40 Jahre Körper-da-Sein eingeschrieben haben, und Sehnsüchte, die er als suchender, forschender Körper formuliert, bilden zugleich ein Archiv, ein Ereignis und eine Landschaft der Sehnsüchte. Ein „event“, erzählt Juren, in dem sich das Verhältnis nicht mehr nur zwischen Ding und Nicht-Ding ereignet, sondern auch zwischen Objekt und Gedanke, zwischen Sprache, Stimme, Körper, Geist, Humanem und nicht Humanem (ein Tisch, ein Gipsabdruck, Filmspulen, der Boden ...).
Die Tänzerin steuert den eigenen Körper und beobachtet diese Aktionen zugleich, als wäre sie davon selbst überrascht. Und ist es wohl auch. Die Erkundung einer Maschine, mal Fluggerät, mal Kreisel, liegend, kriechend, schwingend, ruhend. Das Be-Greifen der Arme, Beine, der Wade, als wären sie das ewig Fremde dieses Gedächtnissehnsuchsortes und sind es doch nur im Moment dieser Choreografie zwischen Du (Ich) und Du (Du).
Der kontinuierlich und nahezu jede Bewegung der Tänzerin begleitende klug gearbeitete Sound von Paul Kotal unterstreicht diese Such- und Sehnsuchtskonstellationen, in dem er vibriert, summt, dröhnt, dann wieder innehält, ausbricht, verstummt. Komposition und Choreografie verbinden sich zu einer poetischen Folge an Entfremdungen und Distanzierungen, überraschenden Momenten des (Sich-)Findens in der Suche nach der/dem anderen im Ich. Diese Verbindung zwischen „Ich“, „Du“ (dem anderen) und den anderen nennt Juren das eigentliche Ereignis („the event itself“). Da sucht die Zunge laut und (über Headset verstärkt) schmatzend nach Körpern außerhalb des Mundes, dem eigenen und dem Körper des Bühnenraumes, dem Boden. Da streicht die eigene Haut über die Haut eines „fremden“ Körpers und gesteht ihr Verlangen nach Haut („the desire for skin“) mit einem cremegenerierten „saftigen“ Tanz der sich penetrierenden Oberflächen.
Die Zunge trägt bereits bei der Geburt alle Worte in sich, die das „Ich“ im Laufe des Lebens hören, sprechen und lesen wird. Sie trägt die Sehnsucht nach Sprache immer schon in sich, vor der Geburt ebenso wie in all den Momenten des Lebens, in denen sie sprechen und nicht sprechen, geben und nehmen wird. In Kontakt mit den Worten zu treten ist, so eine These dieses intensiven Abends der Lektionen, die Formulierung der Sehnsucht nach Sprache, die emotionale Verbindung von Zunge und Wort(en). So ist es mit dem Auge und der Sehnsucht zu sehen, so ist es mit der Haut und der Sehnsucht nach Haut.
Zunge, Haut und Augen treten an diesem Abend in choreografische Selbstgespräche und enigmatische Beobachtungsspekulationen, reflektieren Erworbenes und Verlorenes, Sehnsüchtiges und Vergessenes. Ich schließe die Augen und höre das Schmatzen eines Körpers, feucht, schleimig, cremig, dann körnig, sandig.
„41" ist eine Performance über all das Vorhandene, dessen man* sich so wenig bewusst ist, ob es im Körper gespeichert ist oder im Begehren, sie versammelt aber auch Geschichten des Verlustes und des Verlierens. Hier der Gipsabdruck, der, abgestreift und angehäuft, dem Körper entnommen auch schon nicht mehr ihm zugehörig ist; da das Auge, das nach dem finalen Verlust seine Fähigkeit zu „sehen“ auf neue Weise erlernen muss und im Gespeicherten des einst Gesehenen Kraft und Begleitung findet. Und am Ende die Haut und ihre Lektionen über das „in“ und „ex“ von Liebe und/als Vereinnahmung. Ich love you, I hate you, you penetrate me, I feel you ... in einem letzten längeren Text reflektiert Juren noch einmal dieses kontinuierlich unaufgehobene Verlangen zwischen An-/Abwesendem und Durchdringung/Verlangen. Sprache, Bewegung und Berührung, Worte und Körper bleiben in der Schwebe: „Are you here, my love?“
Anne Juren: „41". Konzept, Text & Choreografie: Anne Juren; Performing Models: Linda Samaraweerová, Eva Mayer; Sound: Paul Kotal; Licht: Bruno Pocheron; Bühne: Alina Amman, Roland Rauschmeier; Outside Eye: Philipp Gehmacher. 13. und 14.12.2018, Tanzquartier.