Neil Smith: F*ck steht für Familie
Der kanadische Übersetzer und Autor schreibt sich mit dem Roman Jones seine schmerzhafte Kindheit von der Seele. Keine Autobiografie, sondern eine mit Witz und Humor gedämpfte Tragödie, deren Basis die Kindheit und das Heranwachsen des Autors und seiner Schwester ist. Seine Erinnerungen und Gefühle erlebt das fiktive Geschwisterpaar, Abi und Eli, für den Autor.
Eli und seine ältere Schwester haben eine enge Verbindung, sie sprechen eine eigene Sprache, machen Witze, die sonst niemand versteht und planen schon recht früh, fortzugehen und ein richtiges, ein eigenes Leben zu führen. In der Erzählung werden Vater und Mutter nicht so genannt, sondern mit ihren Vornamen, Pal und Joy. Sie beiden Kinder haben keine Eltern, wie man sie sich vorstellt. Pal ist alkoholkrank, verliert jeden Job und zieht mit der Familie von einem Ort zu anderen, bleibt, wo er einen Job findet. Abi und Eli haben keine Freunde, keinen regelmäßigen Unterricht, keine Wurzeln, keine Familie. Für sie ist der Begriff ein Schreckgespenst, und sie ersetzen ihn mit dem vulgären F-Wort. Sprechen sie von ihren wechselnden Aufenthaltsorten mit Pal und Joy, dann sagen sie „Jones Town“. Ein Heim, ein Zuhause kennen sie nicht, die narzisstische Joy und den lebensuntüchtigen Pal halten sie für die Normalität. F*ck ist das einzige, was ihnen dazu einfällt.
Eli und Abi wachsen mit Pal und Joy in den 1970er Jahren auf, doch wo immer sie sind, in Montreal oder Boston, Salt Lake City oder wieder in Montreal, sie wollen weg. In ihren Träumen sind sie in New York, haben einen Beruf und leben zusammen. Erst spät verseht Eli, was im Kinderzimmer jeden Nachmittag geschieht, wenn der Vater Abi in den Mittagsschlaf begleitet. Die Mutter weiß davon, greift aber nicht ein. Abi ist schon zwölf, als er versteht, dass des Vaters Sanftheit nichts mit Liebe und wahrer Fürsorge zu tun hat. Jetzt ist er sicher, dass sie Jones Town verlassen müssen. Von Jahr zu Jahr und von Aufenthaltsort zu Aufenthaltsort sind die Kapitel schön geordnet, auch die Leser steigen Stufe um Stufe hinauf bis zur erträumten Hochzeit von Abi und Eli. Ihr Teenagerleben ist exzessiv, fiebrig, weder Moral noch Gesetz können ihnen Grenzen setzen. Der Schmerz muss betäubt werden. Die Sucht, Drogen, Alkohol, Promiskuität, prägen das Heranwachsen von Eli und Abi fern von Jones Town. Fern allerdings nur lokal, Jones Town hat sich schmerzhaft in ihr Sein hineingebohrt, sie kommen nicht los. Der Buchtitel ist der Name der Familie, für die die Geschwistern nur das F-Wort verwenden. Auch die Geschwister rufen einander oft „Jones“. Der Name ist übrigens Programm. Leo gibt Auskunft: Jones bedeutet Sucht oder direkt Heroin. Sie kommen nicht davon los. Beide lieben oft dieselben Männer und beide lieben die Kunst und die Sprache. Obwohl sich ihre Wege trennen, bleiben sie einander verbunden, treffen immer wieder zusammen. Abi, die am schwersten verletzt ist, bekommt ihr Leben nicht in den Griff, spürt auch als Erwachsene immer noch die fremden Hände auf ihrem Körper. Sie kann das Gewicht kaum ertragen. Einzig die Betäubung hilft. Eli überlebt, wie der Autor, arbeitet auch der Doppelgänger als Übersetzer literarischer Werke.
Die Autofiktion ist eine Beichte und auch eine Abrechnung mit Pal und Joy, um sie endlich loszuwerden. Neil Smith, der mit dem Jugendbuch Das Leben nach Boo bekannt geworden ist, hat seine schmerzhaften Emotionen den Protagonistinnen überlassen, und schreibt die Erinnerung und das dazu Erfundene aus gesunder Distanz. Würde er sie nicht immer wieder mit Sarkasmus und Humor abmildern, wäre die Lektüre kaum zu ertragen. So schnell werden die Leserinnen Abi und Eli nicht vergessen, während sie hoffentlich Jones Town mit Pal und Joy schon aus dem Gedächtnis gelöscht haben. Am Ende des Buches gibt der Autor einen Hinweis auf den realen Hintergrund, der so ehrlich und ohne Groll erzählten Geschichte von Abi und Eli in Jones Town. Smith schenkt den Leserinnen ein Foto und widmet den aufwühlenden Roman seiner Schwester. Das alte Schwarz-Weiß-Foto hat Eli auf dem Boden des Krankenhauses gefunden, als er Abi besucht hat. Doch es gehört Neil. Auch Gail, die Schwester Neils, hat wie Abi davon geträumt, Tänzerin zu werden. Im weißen Tutu, das weißblonde Haar mit einem weißen Band zurückgehalten, den linken Arm über den Kopf gehoben, den rechten seitlich weggestreckt, steht die Siebenjährige in Ballerina-Position auf den Zehenspitzen. Und lächelt.
Neil Smith: Jones, aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. 304 S, Schöffling & Co., 2014. €) 25,70. E-Book: € 19,99.